Editorial

Vollerhebung

Was nicht quantifizierbar ist, zählt nicht. Im wahrsten Sinne des Wortes. In allen politischen Systemen untermauern Politiker ihre Positionen gern mit Statistiken. Besonders wichtig ist das in Demokratien, in denen es auf Argumentation und nicht nur auf Befehle ankommt.

Die Wirklichkeit ist freilich oft nicht so eindeutig, wie präzise bezifferte Datensätze glauben machen. Winston Churchill wird der Rat zugeschrieben, nur Statistiken zu trauen, die man selbst gefälscht habe. Sein Vorgänger als britischer Premier im 19. Jahrhundert, Benjamin Disraeli, soll die Steigerung „Lügen, gemeine Lügen, Statistiken“ geprägt haben. Lebten sie heute, würden die beiden die Euromitgliedschaft Griechenlands vielleicht so kommentieren. Die Empörung ist groß, weil Athener Spitzenpolitiker seinerzeit manipulierte Zahlen vorlegten. Allerdings ließen europäische Kollegen ihnen das auch durchgehen. Allzu intensiv wurde nicht geprüft, Griechenlands Teilnahme war politisch erwünscht.

Das Beispiel Euro zeigt überdeutlich, dass Statistiken nicht nur rhetorische Hilfsmittel sind. Richtig verwendet, sind sie ein Kontrollinstrument. Sie dienen dem Erkenntnisgewinn. Ohne solide Zahlenreihen sind strukturelle Imbalancen der Weltwirtschaft weder zu durchschauen noch zu beheben. Sie gehören aber zu den Ursachen der aktuellen Weltfinanzkrise. Es ist noch längst nicht ausgemacht, dass die Staats- und Regierungschefs der G20, der Gruppe der 20 größten Volkswirtschaften, dieser Aufgabe gewachsen sind. Wir wissen nicht einmal, ob das im vergleichsweise überschaubaren Rahmen der EU gelingt, deren Krise ebenfalls in Ungleichgewichten wurzelt.

Dass die Datengrundlage stimmen muss, gilt nicht nur für die Weltwirtschaftspolitik. Ohne belastbare Zahlen ist es nicht möglich, die nationale Schul- und Krankenhausversorgung zu planen – oder auch nur den öffentlichen Nahverkehr für eine mittlere Großstadt. Auch der Privatsektor braucht Statistiken, um abzuschätzen, wie sich Märkte entwickeln. Unternehmen interessieren sich für makroökonomische Daten (wie Inflations- und Wachstumsraten) ebenso wie für mikroökonomische: Wie steht es um die Kaufkraft einer bestimmten Kundschaft? Firmen beauftragen Wissenschaftler mit Marktforschung, um Chancen zu erkennen und Risiken zu vermeiden.

Statistische Basisdaten gehören zur staatlichen Daseinsvorsorge. Um Stichproben zuverlässig hochrechnen zu können, muss man die Größe der Grundgesamtheit kennen. Deshalb sind Volkszählungen wichtig. Sozialwissenschaftler lernen im Grundstudium, dass sie alle zehn Jahre stattfinden sollten. Besonders wichtig sind sie, wo Meldeämter und andere Behörden kaum systematische Datenreihen führen. Aber auch dort, wo das gewähr­leistet ist, müssen fortgeschriebene Zahlen von Zeit zu Zeit mit der Realität abgeglichen werden. Die EU erlaubt, dies anhand des Quervergleichs der amtlichen Register von Meldebehörden und Sozialversicherungen zu tun und dann das Ergebnis mit einer empirischen Befragung aller Hauseigentümer sowie sieben bis neun Prozent der Bevölkerung zu kontrollieren.

Wir Deutschen halten unseren Staat für besonders leistungsfähig. Die letzte Vollerhebung hat die Bundesrepublik aber schon 1987 durchgeführt – noch vor der deutschen Einheit. Das Defizit wird 2011 behoben, wenn europaweit ein registergestützter Zensus ansteht. Bis dahin bleibt Deutschland, zusammen mit Afghanistan, Nordkorea und Sudan, in der Gruppe der Länder, die seit mehr als 20 Jahren ihre Bevölkerung nicht mehr gezählt haben.

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