Nigeria

Ein Land am Abgrund

Das wirtschaftlich starke Nigeria galt lange als Hoffnungsträger in Afrika. Seit einigen Jahren hat das Land aber mit gewaltigen Krisen zu kämpfen. Ohne Unterstützung von außen droht der bevölkerungsreichste Staat des Kontinents „aus den Fugen zu geraten“, urteilt Wolf Kinzel von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Kurzstudie.
Eine Mutter füttert ihr unterernährtes Kind in einer Krankenstation von Ärzte ohne Grenzen in Maiduguri, Nigeria. picture-alliance/AP Photo Eine Mutter füttert ihr unterernährtes Kind in einer Krankenstation von Ärzte ohne Grenzen in Maiduguri, Nigeria.

Der Wissenschaftler war als Fregattenkapitän von 2013 bis 2016 stellvertretender Militärattaché an der deutschen Botschaft in Nigeria. Er macht vier Krisenherde aus:

  • Die Bedrohung durch die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Nordosten, die eine Hungerkatastrophe in der Region ausgelöst hat,
  • Sabotageakte im Niger-Delta gegen die Ölproduktion,
  • den schwelenden Konflikt zwischen Ackerbauern und Viehhirten im so genannten Middle Belt und
  • die Unabhängigkeitsbestrebungen Biafras im Südosten.

Boko Haram hat nach Einschätzung des Autors zwar an Einfluss verloren, aber die Terrorgruppe agiere weiter. Dass Boko Haram technisch besiegt sei, wie Nigerias Präsident Muhammadu Buhari im Dezember 2015 verkündet hatte, zweifelt Kinzel an. Boko Haram habe sich in zwei Fraktionen gespalten, wovon ein Flügel sich in die Ursprungsgebiete im Nordosten zurückgezogen habe und dort vorwiegend die Zivilbevölkerung mit Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten und Raubüberfällen drangsaliere. Der andere Flügel richte seine Angriffe eher gegen staatliche Stellen, Kirchen, Ausländer und internationale Organisationen. Er folgt laut Kinzel damit der Strategie von ISIS.

„Aufgrund der desaströsen Sicherheitslage ist die Agrarwirtschaft und die Nahrungsmittelversorgung im Nordosten Nigerias fast zusammengebrochen“, schreibt der Autor. Laut UNICEF sind mehr als 4 Millionen Menschen von einer akuten Hungersnot bedroht und 2,6 Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht. Verglichen mit 2009, als die Radikalisierung von Boko Haram begann, sei die Situation für die Menschen in der Region heute noch schlimmer als damals, urteilt der SWP-Experte. Wenn man bedenke, dass die genannten Missstände das Entstehen von Boko Haram förderten, werde deutlich, wie brisant die Lage bleibe. Auch das Problem der Binnenflüchtlinge sei laut Kinzel nicht zu unterschätzen. Noch seien sie zu arm, um nach Europa zu fliehen, doch schon jetzt seien Nigerianer die größte Gruppe der in Italien ankommenden Flüchtlinge.

Die Konflikte im Niger-Delta sind ganz anderer Natur, aber auch sie schwächen den Staat. Dort gibt es laut Kinzel verschiedene Akteure, die mit Anschlägen auf die Ölförderinstallationen und Pipelines eine stärkere Beteiligung an den Öleinnahmen fordern. Die Lage und die Verbindungen der Gruppen untereinander sei unübersichtlich. Das Spektrum reiche von kriminellen Banden, die Beute machen wollten, bis hin zu politischen Bewegungen, die wirklich für eine Verbesserung der Lebensumstände kämpften. Die nigerianische Regierung bemühe sich mit verschiedenen militärischen Operationen, der Lage Herr zu werden. Neue Strategie sei seit 2016 eine Einbeziehung der Zivilbevölkerung, deren Perspektiven mit dem Bau von Schulen und medizinische Einrichtungen verbessert werden sollen. Der Autor zweifelt allerdings daran, dass die Regierung dies angesichts der schwierigen finanziellen Lage wirklich umsetzt.

In der Mitte des Landes schwelt seit Jahrzehnten ein Konflikt zwischen nomadisierenden Viehhirten und sesshaften Farmern. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen gab es seit 2014 weit über 1000 Tote, erklärt Kinzel, der als Ursache dafür die Verknappung der Ressourcen infolge des Klimawandels in Verbindung mit steigenden Bevölkerungszahlen sieht. Die weitgehende Abwesenheit von Staatlichkeit habe auf beiden Seiten zu einer zunehmenden Bewaffnung geführt. Ähnliche Konflikte gibt es in verschiedenen Ländern südlich der Sahara wie etwa im Tschad (siehe Beitrag von Djeralar Miankeol in E+Z/D+C e-Paper 2015/07, S. 24).

Als Ausweg aus der Krise benötige Nigeria schnelle, umfangreiche und vor allem langfristige Hilfe, urteilt der Experte. Der niedrige Ölpreis und die folglich abnehmenden Staatseinnahmen verschärften die genannten Krisen. Deutschland sollte nach Meinung Kinzels die nigerianische Polizei und die Streitkräfte unterstützen etwa beim Thema „Crowd and Riot Control“, also dem Eindämmen von gewaltsamen Konflikten. Eine fundierte Ausbildung könnte dazu beitragen, dass Polizei und Soldaten als verlässliche Staatsdiener auftreten und so das Vertrauen und den Respekt der Bevölkerung gewinnen.

Sabine Balk

Link

Kinzel, W., 2016: Nigeria wankt – nicht nur wegen Boko Haram.
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A80_kzl.pdf

 

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