Fachliteratur

Hochgesteckte Ziele

Seit dem ersten Treffen der G20-Staatsführer in Washington Ende 2008 hält die Debatte über die Rolle und das Potenzial dieses neuen informellen Zusammenschlusses an. Unter Wissenschaftlern gibt es ganz unterschiedliche Ansichten darüber, was die G20 ist und was ihre Aufgaben sind.

[ Von Jonathan Stanley ]

Im Asia Pacific Journal plädiert Edward Barbier (2010) dafür, die ökologischen Bedin­­gungen in den G20-Ländern durch umfassende Anreize zu verbessern. Das würde auch positive Effekte in den Entwicklungsländern nach sich ziehen. Seine Argumentation setzt bei einer einfachen Zahlenbetrachtung an: Bisher seien nur 16 Prozent der ­­33 Billionen Dollar, die weltweit in Anreizprogramme investiert werden, für ökologische Belange vorgesehen – für Barbier ein beklagenswert unzureichender Prozentsatz angesichts der ökologischen Probleme, vor denen die Menschheit steht.

Letztlich fordert Barbier, dass die G20 ein koordiniertes globales ökologisches Förderprogramm auf die Beine stellen soll. Dabei räumt er bedeutende politische, technologische und ökonomische Probleme ein. Optimistisch dagegen beschreibt er die volkswirtschaftlichen Vorteile einer geringeren Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und einer verbesserten Energiesicherheit. Dies würde etwa die für Ölimporteure wie die USA typischen Leistungsbilanzdefizite abmildern und entsprechend die Handelsüberschüsse von Ölexporteuren verringern.

Sein Argument passt zu den häufig vorgebrachten Ratschlägen an die reichen Nationen, ihre industrielle Produktion von arbeitsintensiven Gütern auf ausbildungs-, kapital- und technologieintensive Produkte umzustellen. Von diesem Ansatz könnten sowohl die großen als auch die kleinen Ökonomien profitieren, weil dann Innovation entscheidend wäre. Die Dynamik wäre offensichtlich besonders stark, wenn sie von einem globalen Anreizprogramm angetrieben würde.

Der Haken ist natürlich, dass die Politik tendenziell Investitionen in saubere Energie im Vergleich zu konventionellen Quellen für „noch zu teuer“ hält. Grund dafür ist laut Barbier, dass die Energiemärkte durch die Subventionierung der fossilen Brennstoffe in vielen Ländern stark verzerrt sind und dass Umweltverschmutzer nicht gezwungen werden, die vollen Kosten zu tragen, die ihre Emissionen verursachen. Die Untätigkeit in diesem Bereich hält Barbier für das „größte Versagen“ der G20.

Dagegen lobt er den ökologischen Fortschritt in Südkorea und China. Die Regierung in Seoul steckte 80 Prozent ihrer Anreizprogramme in die Förderung ökolo­gischer Nachhaltigkeit. Beijings Prozentsatz war kleiner, aber angesichts der schieren Größe des Landes und des Förderprogramms sind die Umweltmaßnahmen beeindruckend. Barbier beklagt allerdings ihre vornehmliche Ausrichtung aufs Inland. So sei die Chance verpasst worden, politischen Druck zur Schaffung eines globalen Umweltprogramms auszuüben.

Club-Denken

Masahiro Kawai und Peter A. Petri (2009) vom Asian Development Bank Institute in Tokio hatten bereits früher einen akademischen Versuch unternommen, die Politik der G20 ­zu beeinflussen. Sie plädierten für einen erweiterten, hierarchischen Organisationsverbund aus bestehenden globalen sowie neuen regionalen Organisationen. Letztere könnten Probleme von lokalem, regionalem und kontinentalem Belang effektiver angehen, so dass Institutionen wie der IWF und die Weltbank sich auf die Bereitstellung­ globaler öffentlicher Güter konzentrieren könnten.

Um ihre Position zu untermauern, berufen sich die Autoren auf die ökonomische Clubtheorie, bezogen auf internationale Organisationen. Ein Grundsatz dieser Theorie ist, dass freiwillige Zusammenschlüsse oder Clubs für die Bereitstellung öffentlicher Güter nützlich sein können, dass sie aber unter anderem anfällig für Blockaden sind. Laut Kawai und Petri ist für Länder eine regionale Integration vorteilhaft, wenn es um Handel, Zölle, Entwicklung und volkswirtschaftliche Stabilität geht.

Dagegen sei es nicht sinnvoll, die G20 mit neuen Initiativen zu überlasten, da „die Kapazitäten fehlen, sie umzusetzen“. Zudem litten globale Institutionen tendenziell unter der schleichenden Ausweitung ihrer Aufgaben, da sie versuchten, es vielen verschiedenen Auftraggebern recht zu machen. Die Autoren schlagen daher vor, dass die G20 sinnvolle Veränderungen bei den bestehenden Organisationen wie IWF, Weltbank und WHO anstrebe. Gleichzeitig könnte sie Verantwortung an weitere regionale Institutionen delegieren, wie etwa regionale Entwick­lungsbanken, Kreditinstitute, Finanzstabilitätsdialoge und Handelsinstitutionen. Die Vision ist eine Art globaler Föderalismus.

Kawais und Petris Ansatz ist nicht ganz falsch, aber sie gehen kaum darauf ein, dass regionale Organisationen Politik auch behindern können, etwa wenn ihre Entscheidungsstrukturen es nicht erlauben, auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren. Für die Autoren sind kleinere regionale Gruppen eng verbundener Ökonomien am besten geeignet, um volkswirtschaftliche Angelegenheiten in ihrer Region zu managen. Kawai und Petri denken dabei sehr modellhaft und es ist gelinde gesagt zweifelhaft, ob ihre Ideen immer der empirischen Überprüfung standhalten werden. Die Mühe, die die EU mit den griechischen und irischen Schuldendramen hat, weist darauf hin, dass die Dinge sich in der Praxis oft als komplizierter erweisen.

Im Third World Quarterly veröffentlichte Susanne Soederberg (2010) eine der schärfs­ten Kritiken an der G20 der letzten Zeit. Sie wirft den G20-Staatsführern vor, vorsätzlich die wahren Hintergründe der Finanzkrisen zu verschleiern sowie einen Prozess zu fördern („Finanzfetischismus“), der dazu dient, diese Fragen zu entpolitisieren.

Soederberg argumentiert, dass G20-Dokumente die Märkte als technische, ja sogar „wissenschaftlich-ökonomische“ Einheiten darstellen. Ihrer Ansicht nach verhüllt eine solche Darstellung nicht nur ökologische Notwendigkeiten und Profitmotive, sondern verwischt auch die Unterscheidung zwischen privater Ökonomie (inklusive Kredit- und Finanzmärkten) und Nationalstaaten. Das führe dazu, dass politökonomischen Tatsachen als naturgegeben erscheinen. Soederberg meint, die G20 schaffe es, enorme Geldsummen für Rettungsaktionen und Anreizpakete zur Sicherung der etablierten Weltordnung bereitzustellen. Sie habe aber wenig dafür getan, das Leid derjenigen abzumildern, die von der Krise in die Armut gerissen wurden.

Soederberg fordert „rigorose staatliche Regulierung“. Stattdessen bevorzugt die G20 auf dem Markt basierende, freiwillige Maßnahmen für mehr Transparenz und einen stärker symmetrischen Finanzinformationsfluss kombiniert mit einer Prise ideologisch populärer, aber nur vage definierter Maßnahmen für „gute Regierungsführung“. Während Soederbergs Ansatz den Denkgewohnheiten in Nordamerika und Westeuropa widerspricht, findet er Resonanz bei Asiens Politikern. Diesen ist durchaus bewusst, welch führende Rolle Regierungen für die Entwicklung ihrer Länder gespielt haben, wie beispielsweise in Japan Anfang des 20. Jahrhunderts oder in Vietnam und China heute.

Empfehlung für Asien

George de Menil (2010) wiederum beleuchtet in seinem Aufsatz in den Asian Economic Papers die Wirtschaftskrise, Reformaussichten und die Folgen für Asien. De Menil hält die konventionellen Krisenerklärungen nicht für ausreichend. Es sei schließlich nicht das erste Mal, dass eine Industrienation eine Anlagenblase erlebe. Seiner Ansicht nach müssen verschiedene Faktoren erklärt werden, unter anderem
- die Komplexität „strukturierter“ Finanzprodukte wie verbriefter Wertpapiere,
- die „alarmierende“ Bereitschaft von westlichen Finanzinstitutionen mit minimalem Eigenkapital zu arbeiten („le­verage“),
- das Vertrauen, dass neue Strategien „die richtigen waren“, und
- das Vertrauen in die Märkte.

Laut de Menil ist die Atmosphäre in der Wirtschaft so düster geworden, dass „keine ­größere Finanzinstitution in der entwickelten Welt so schnell die Exzesse vom Beginn dieses Jahrhunderts wiederholt“. Damit ist die zentrale Frage nicht, ob Reformen notwendig sind sondern, angesichts des politischen Drucks, was die Ziele einer Reform sein sollten.

Die Aussichten sind laut de Menil gemischt. Zwar könne man Schlupflöcher in einzelnen Ländern schließen, aber die internationale Koordination sei eine andere Sache, und global relevante Finanzinstitutionen auf nationaler Ebene anzugehen, sei nur beschränkt sinnvoll. Zudem warnt er, die „Volcker-Regel“ – nach der kommerzielle Banken keine Geschäfte mit hohem Risiko mehr eingehen dürfen – sei nicht befriedigend, da ein solches Verbot diese Aktivitäten nur in „Kasino“-Banken verlagern würde, deren Anlagen nicht abgesichert sind.

Die asiatischen Länder waren de Menil zufolge nicht in die strukturierten Schuldenmärkten verstrickt, die den Westen erschüttert haben. Zudem waren ihre Ökonomien durch große Devisenreserven abgepuffert. Angesichts ihrer schnellen Erholung ist de Menil überzeugt, dass die Regierungen Asiens sich für eine „vorsichtige Liberalisierung“ entscheiden sollten. So könnten sie von den Fehlern in Nordamerika und Europa lernen, ohne Liberalisierung vollständig abzulehnen.

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