Technischer Fortschritt

Folgen abschätzen

Viele Entwicklungsprobleme lassen sich mit innovativer Technologie lösen, aber nicht jede Neuerung ist auch nachhaltig. Es muss international mehr über mögliche Folgen gesprochen werden.

Von Jan Peter Schemmel und Saskia Nagel

Weltweit werden rasant neue Technologien entwickelt – etwa in der Medizin oder dem Klimaschutz. Viele Erfindungen sind segensreich: Sie erhöhen den Lebensstandard und machen Menschheitsträume wahr. Eine aufstrebende ­chinesische Firma heißt programmatisch „Build your dreams“ (BYD).

Technik begeistert, verspricht Fortschritt und Wohlstand. Zugleich aber ruft sie angesichts oft nur schwer einschätzbarer Folgen Angst und Unsicherheiten hervor. Das wurde bei der Reaktorkatastrophe von Fukushima jüngst besonders deutlich, ist aber schon lange ein bekanntes Phänomen. Neben der Nukleartechnik betrachten viele Menschen auch die Gentechnik und die Nanotechnologie mit großer Skepsis.

Technologischer Fortschritt nutzt der Gesellschaft nur, wenn er ihrem Wertespektrum gerecht wird und sich an den Prinzipien nachhaltiger Entwicklung orientiert. Es ist die Aufgabe der Politik, auf Technologieentwicklung und -anwendung einzuwirken. Im Zeitalter des Weltmarkts endet diese Verantwortung nicht an nationalen Grenzen. Deshalb ist Technologieaußenpolitik nötig. Sie muss Chancen und Risiken innovativer Technologien samt ihrer gewollten und ungewollten Auswirkungen im Blick haben. Dafür sollten eta­blierte Verfahren der Vorausschau und Technikfolgenabschätzung internationalisiert und eine entsprechende internationale Community of Practice aufgebaut werden.

Bislang gaben nur wenige Länder in der globalen Entwicklung technologisch den Ton an. Zunehmend treten aber auch Schwellenländer mit innovativen Technologien in Erscheinung. Zugleich breiten sich neue Technologien schnell aus. In ­Afrika werden Mobiltelefone vielfach ­benutzt, um Geld zu überweisen. Diese ­Anwendung können sich die meisten Deutschen bis heute kaum vorstellen. Das Beispiel zeigt, dass neue Technik auch ganz neue Entwicklungspfade möglich macht, die vom Vorbild der reichen Industrienationen abweichen.

Die Technologieführerschaft wird künftig relativ gesehen weniger in Indus­trieländern liegen – weder bezüglich der Produktion von Hochtechnologie noch was deren Anwendung durch breite ­Nutzergruppen angeht. Argwöhnisch ­beobachteten westliche Wettbewerber beispielsweise, wie der chinesische Batterieproduzent BYD zum Hersteller von Elektroautos heranwuchs. Mittlerweile kooperiert Daimler bereits mit dem jungen Fahrzeugproduzenten. Auch andere Schwellenländer wie Indien oder Brasilien spielen bei Innovationen eine wachsende Rolle.

Nicht jede Neuentwicklung bringt aber wirklich Fortschritt. Bei der Förderung von Agrartreibstoffen hat beispielsweise der reichen Welt der Überblick ­gefehlt. Auf neue, nicht subventionsabhängige Einkommensquellen für die heimischen Bauern hoffend, verabschiedete die Europäische Union 2003 die Bei­mischungsquote. Hiesige Agrartreibstoffe waren aber so teuer, dass Deutschland zum Beispiel begann, Rohstoffe aus Entwicklungsländern zu importieren, wo sie oft unter nicht nachhaltigen Bedingungen angebaut wurden. Sogar Regenwälder wurden gerodet.

Diese Politik hat das Klima nicht geschützt, sondern ihm geschadet, und hat die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben. Also musste zurückgerudert werden. Neue Nachhaltigkeitsstandards wurden zur Importbedingung. Wären die internationalen Folgen der europäischen Politik früher abgeschätzt worden, wäre all dies vermeidbar gewesen.

Auf nationaler Ebene leisten in vielen europäischen Ländern Institutionen Technikfolgenabschätzung. Immer geht es darum, das Spektrum möglicher sozialer, wirtschaftlicher, rechtlicher, politischer, kultureller und ökologischer Auswirkungen neuer Technologien zu verstehen. Entscheidungsträger und Öffentlichkeit müssen wissen, welche Optionen es gibt und wohin sie führen. Technikfolgenabschätzung dient dazu, Konflikten und Problemen vorzubeugen.

In Deutschland nimmt das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) diese Funktion wahr. In so genannten ITA – Innovations- und Risikoanalysen – analysiert die Regierung neben der Wettbewerbsfähigkeit auch Chancen und Gefahren neuer Technologien.Auf europäischer Ebene haben sich 14 Institutionen im European Parliamentary Technology Assessment Network (EPTA) zusammengeschlossen. Außerhalb Europas sind Prozesse der Technikfolgenabschätzung aber noch nicht etabliert. Das wäre aber wichtig, denn es geht um Themen von weltweiter Relevanz.

Internationales Wissen

Nationale Institutionen sind gut beraten, bei der Technikfolgenabschätzung auch ausländische Experten einzubinden. Nicht alle Auswirkungen erschließen sich durch theoretische Betrachtungen. Betroffene zu beteiligen liefert wichtige Informationen und steigert die Chance, dass sie Ergebnisse annehmen. Breite Partizipation auch über Grenzen hinaus führt zu realistischen Ergebnissen.

Internationalisierung der Technikfolgenabschätzung bedeutet auch, dass entsprechende Institutionen und Verfahren in Schwellen- und Entwicklungsländern etabliert werden müssen. Das Cartagena-Protokoll der UN-Biodiversitätskonvention über die biologische Sicherheit sieht so etwas bereits vor. Das gilt auch für die Rotterdamer Übereinkunft über gefährliche Chemikalien. Beide internationalen Verträge sprechen von „vorheriger Zustimmung nach Inkenntnissetzung“ (Prior Informed Consent), bevor biologische oder chemische Produkte in ein Land importiert werden dürfen.

Das setzt aber voraus, dass das betroffene Land die jeweiligen Chancen und Risiken versteht. Bei Entwicklungsländern mit schwachen Kapazitäten ist das alles andere als selbstverständlich. Die Entwicklungspolitik kann auf doppelte Weise zu verantwortungsvoller Technologie­außenpolitik beitragen. Sie sollte
– sich in internationalen Verhandlungen für Entscheidungsspielräume für Entwicklungsländer beim Technologieimport einsetzen und
– dazu beitragen, Kapazitäten für die Technikfolgenabschätzung in Partnerländern aufzubauen.

Dies ist nicht nur in der Kooperation mit den ärmsten Ländern relevant. Im Gegenteil liegt es im deutschen Interesse, dass entsprechende Strukturen in den Schwellenländern entstehen, die in zunehmendem Maße selbst zu Technologieanbietern werden. Deutschland sollte sein wissenschaftliches und technisches Know-how nutzen, um zum Entstehen einer globalen Kultur der Abwägung von Vor- und Nachteilen verschiedener Technologiepfade beizutragen. Zu diesem Zweck sollte zum Beispiel der Austausch zwischen nationalen Institutionen der Technikfolgenabschätzung gefördert werden. Solche transnationalen, wissensbasierten Expertennetzwerke können wichtige Beiträge zur Politikgestaltung leisten.

Wichtig ist auch, dafür zu sorgen, dass Ergebnisse der Technikfolgenabschätzung zur Kenntnis genommen werden. Selbst im sicherheitsorientierten Deutschland stoßen Hinweise auf die Risiken häufig auf taube Ohren. Der Preis für Versäumnisse kann aber sehr hoch sein – wie Fukushima, wo die Wucht möglicher Tsunamis dramatisch unterschätzt wurde, verdeutlicht.

Das Plädoyer für Technikfolgenabschätzung mag dirigistisch klingen. Dabei ist der Staat auf diesem Gebiet nicht sonderlich kompetent. Er gibt zwar den Rahmen für die Technologieentwicklung vor. Neue Technologien basieren aber in der Regel auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Unternehmen zur Marktreife bringen. Die Gesellschaft nutzt sie, genießt ihre Vorteile und leidet unter ihren Nebenwirkungen. Ohne all diese Gruppen einzubeziehen, greift die Technologiebewertung zu kurz. Nötig ist also nicht kleinkariertes bürokratisches Handeln, sondern die Bereitschaft, umfassend zu prüfen, was eine Innovation bewirken kann.

Deutschland kann den Fortschritt im technologiepolitischen Umfeld international mitgestalten – und dafür sorgen, dass aus technischer Entwicklung nachhaltige Entwicklung wird. Deutschland sollte sich über internationale Foren wie dem Cartagena-Protokoll oder dem Rotterdamer Übereinkommen hinaus für internationale Technologiefolgenabschätzung einsetzen.

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