Internationale Beziehungen
Weshalb Indien und China ihre Beziehungen neu ausrichten
 picture alliance/ZUMAPRESS.com/Alexander Kazakov
  
                picture alliance/ZUMAPRESS.com/Alexander Kazakov
              Die Durga-Puja-Feierlichkeiten in Indien werden jährlich zu Ehren der hinduistischen Muttergöttin Durga begangen und um den Sieg des Guten über das Böse zu feiern. Im Bundesstaat Westbengalen sind die Festivitäten die größten ihrer Art und zählen zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Während der Feierlichkeiten im September dieses Jahres waren Tonfiguren von Durga zu sehen, die einen Dämon tötet, der US-Präsident Donald Trump frappierend ähnlich sah. Die Einheimischen drückten mit dieser politischen Symbolik ihren Ärger über die jüngsten Handelszölle der Trump-Regierung aus.
Trumps Handelspolitik hat drastische wirtschaftliche Folgen. Seine Regierung hat Zölle von bis zu 50 % auf indische Exporte wie Kleidung, Schmuck, Chemikalien und Schuhe erhoben – betroffen sind mehr als die Hälfte der jährlichen Exporte des Landes in Höhe von 87 Milliarden Dollar in die USA. Ersten Schätzungen zufolge könnten die Zölle Indiens Exporte in die USA mittelfristig halbieren. Das würde bis zu 0,9 % des indischen BIP gefährden und Millionen von Arbeitsplätzen bedrohen, besonders in arbeitsintensiven Sektoren wie Textil, Edelstein und Fischerei.
Auch China bekommt Trumps Zölle zu spüren. Für einige chinesische Exporte lagen diese bei bis zu 145 %. China reagierte mit Gegenzöllen und Exportkontrollen für seltene Erden. Ein Treffen zwischen Trump und Xi Jinping Ende Oktober in Südkorea sendete jedoch Zeichen der Deeskalation.
„Diese disruptiven Zölle bedrohen Indiens exportorientierte Sektoren, haben die Beziehungen zu Washington belastet und den Handel zwischen den USA und China entkoppelt. Indien und China sind gezwungen, in einer sich wandelnden Weltordnung neue Allianzen zu suchen“, sagte Sitaram Sharma, Präsident des Tagore Institute of Peace Studies (TIPS). Er wies darauf hin, dass die US-Zölle gegen Indien weithin als Vergeltung dafür gesehen werden, dass Neu-Delhi russisches Öl importiert hat. Die USA und andere Nationen – darunter Großbritannien und einige EU-Länder – haben wegen Putins anhaltenden Angriffs auf die Ukraine Sanktionen gegen Russland verhängt.
Sharma sprach Mitte September auf einer Konferenz in Kolkata, wo Wissenschaftler*innen aus Indien und China darüber diskutierten, wie globale Entwicklungen die Beziehungen zwischen den beiden Ländern prägen. TIPS und das chinesische Konsulat in Kolkata hatten die Veranstaltung „Shifting Geopolitics: A New Framework for India-China Relations“ organisiert.
Auf der Suche nach anderen Optionen
Die Fachleute diskutierten den Einfluss der jüngsten US-Zölle darauf, dass Indien engere Beziehungen zu China, Russland und anderen Ländern anstrebt. Indiens Premierminister Narendra Modi etwa hatte China erstmals nach sieben Jahren wieder besucht und sich im August auf dem Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Tianjin mit Chinas Präsident Xi Jinping getroffen. Auch der russische Präsident Wladimir Putin hatte an dem Gipfeltreffen teilgenommen – alles Zeichen für eine strategische Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Indien, China und Russland.
Indien und China suchen in Lateinamerika und im Nahen Osten nach neuen Märkten, um sich gegen die Handelsschocks der USA abzusichern. China möchte sich auch in Richtung der Vereinigung Südostasiatischer Staaten (ASEAN) und afrikanischer Länder stärker diversifizieren und den Binnenkonsum steigern.
„Die beiden bevölkerungsreichsten Länder und die beiden größten sich entwickelnden Volkswirtschaften sind in einer entscheidenden Phase ihrer nationalen Entwicklung und Erneuerung“, sagte Qin Yong, Chinas amtierender Generalkonsul in Kolkata. Er bezog sich dabei darauf, dass China und Indien ihre jeweiligen Entwicklungsziele verfolgen, festgelegt in Chinas Second Centenary Goal (2049) und Indiens Viksit Bharat („Entwickeltes Indien“) 2047. Qin betonte, der Handel zwischen den beiden Ländern habe in den ersten sieben Monaten dieses Jahres ein Volumen von 88 Milliarden Dollar erreicht, 10,5 % mehr als im Vorjahreszeitraum. „Nur durch eine Stärkung beidseitig vorteilhafter Zusammenarbeit können China und Indien ein Win-win-Ergebnis und eine gemeinsame Entwicklung erreichen“, sagte er.
Allerdings ist diese Option mit Problemen behaftet. Auf der Konferenz in Kolkata sprachen mehrere Expert*innen über das lang bestehende Misstrauen zwischen Peking und Neu-Delhi. Zugleich betonten sie, wie wichtig es sei, dieses Klima des Konflikts in eines der Zusammenarbeit zu verwandeln. Ishani Naskar von der Jadavpur University in Kolkata betonte, dass Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Geografie und das koloniale Erbe Indiens und Chinas die aktuellen Herausforderungen prägten. „Wir können nicht voreinander weglaufen“, sagte sie. Ihrer Meinung nach sollten sich die beiden Länder darauf konzentrieren, Schwierigkeiten zu überwinden und den Handel zu stärken.
Schwierige Beziehung
Die Beziehungen zwischen Indien und China haben in den vergangenen Jahren stark gelitten. So kam es etwa wiederholt zu Scharmützeln an der gemeinsamen Grenze im Himalaya. Bei einem Grenzkonflikt im Galwan-Tal 2020 verloren mehr als 20 Soldaten beider Länder ihr Leben. „Die bilateralen Beziehungen erreichten einen Tiefpunkt“, erinnerte sich Zhang Jiadong von der Fudan University in China. „Indien stoppte mehrere Investitionen chinesischer Unternehmen und schränkte Technologieexporte ein, während China seine Grenzinfrastruktur verstärkt ausbaute“, sagte er.
Wenig überraschend förderte die Regierung Modi eine Politik der „Selbstständigkeit“, während China seine Beziehungen zur ASEAN vertiefte. Laut Zhang verstärkten die Ereignisse die Unterbrechungen der Lieferketten während der Pandemie. Glücklicherweise entwickelte sich der Konflikt nicht zu einer totalen Konfrontation, sagte Zhang. Beide Länder hätten sich sehr zurückgehalten.
Den beiden Nationen gelang es, ihre Spannungen abzubauen. Im Oktober 2024 beschleunigte ein Grenzschutzabkommen den Deeskalationsprozess; es folgten ein bilaterales Treffen in Russland und Modis Teilnahme am SCO-Gipfel. Hochrangige Treffen wurden wieder aufgenommen. Laut Zhang verlief die Wiederannäherung zwar nicht problemlos, aber die Führungen beider Länder bemühten sich deutlich darum, die Beziehungen zu stabilisieren. „In einer sich wandelnden Welt können sich China und Indien eine anhaltende Konfrontation nicht leisten“, sagte er. Zhang sieht das Grenzabkommen von 2024 als „Durchbruch“.
Huang Yunsong von der Sichuan University in China hob die Bedeutung institutionalisierter vertrauensbildender Maßnahmen hervor, zum Beispiel die 2021 zwischen den Streitkräften beider Länder eingerichtete Echtzeit-„Vertrauens-Hotline“. Er beschreibt sie als einen „rund um die Uhr verfügbaren Mechanismus zur Echtzeit-Koordination, ergänzt durch gemeinsame Übungen in nicht sensiblen Bereichen zur Förderung der Beziehungen zwischen den Streitkräften“.
Wie wichtig Vertrauen ist, bekräftigte auch Tridib Chakraborti von der Adamas University in Indien. Er hob institutionelle Mechanismen für das Konfliktmanagement hervor: „Die künftige Strategie muss auf Realismus basieren und auf regionale und globale Stabilität ausgerichtet sein.“
Suranjan Das, Vizekanzler der Adamas University in Indien, verwies auf die enormen Aussichten für eine Zusammenarbeit zwischen China und insbesondere Ostindien.
Weder Verbündete noch Feinde
All das bedeutet jedoch nicht, dass Indien und China zu Verbündeten würden. Dies wäre nicht vereinbar mit der strategischen Autonomie Chinas und Indiens, sagte Zhang Jiadong. Allerdings betonte er, die beiden Länder „sollten keine Feinde werden, da dies die globalen Risiken vergrößern würde“. Indiens Handelsdefizit von 99 Milliarden Dollar gegenüber China drücke eine „gegenseitige Abhängigkeit“ aus. „Kümmert man sich nicht darum, könnte das Defizit den Protektionismus anheizen; nutzt man es hingegen, könnte es das kombinierte BIP-Wachstum auf über sieben Prozent jährlich steigern und Millionen von Menschen aus der Armut befreien“, sagte Zhang.
Indien richtet seine Beziehungen zu regionalen Blöcken und Ländern neu aus und wird wohl auch seine Verbindungen zu Russland vertiefen. Beide Länder verbindet eine Tradition der geopolitischen Zusammenarbeit; Russland hat Indien in schwierigen Situationen unterstützt. Zu den wirtschaftlichen Beziehungen gehört der Internationale Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC), der Mumbai mit St. Petersburg verbindet – über Iran, Aserbaidschan und das Kaspische Meer. Der Korridor fördert die regionale wirtschaftliche Integration zwischen Indien, Russland, Iran und Zentralasien.
Wie geht es weiter?
Am Rande der Konferenz in Kolkata wurden auch mögliche Folgen dieser geopolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen diskutiert. Dazu gehören:
- Eine gestärkte Shanghai Cooperation Organisation. Diese würde als integrativere und kohärentere Plattform für eine gemeinsame diplomatische Strategie in Eurasien dienen und zugleich stärker beeinflusst werden von den sich verändernden Dynamiken zwischen Indien, China und Russland.
- Eine Erweiterung der Gruppe der BRICS+, die aktuell Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und andere Länder umfasst – inklusive einer vertieften wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten.
- Eine Neugestaltung der Südasiatischen Vereinigung für regionale Zusammenarbeit (SAARC), bestehend aus Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, den Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka – oder aber eine neue regionale Gruppierung, die sich auf die geopolitische Ausrichtung und Konnektivität Südasiens auswirken würde.
- Koordinierte Bemühungen, um Alternativen zu den westlich dominierten internationalen Institutionen zu schaffen – etwa durch globale multipolare Allianzen, da die Länder durch diversifizierte multilaterale Partnerschaften mehr wirtschaftliche Souveränität und Resilienz anstreben.
Weltweit streben Länder nach mehr Kontrolle über wichtige Ressourcen und strategische Sektoren, um sich vor externen politischen Veränderungen zu schützen. Indiens künftige Beziehungen zu anderen Ländern und regionalen Blöcken werden davon geprägt sein, dass es entschlossen ist, strategisch autonom zu bleiben. Dass sich sowohl China als auch die USA mit dem Erzrivalen Pakistan anfreunden, löst in Indien nationale Sicherheitsbedenken aus. Es liegt jedoch im wirtschaftlichen Interesse Indiens, eine differenzierte, pragmatische Zusammenarbeit jenseits ideologischer oder historischer Bündnisse zu pflegen.
Aditi Roy Ghatak ist freie Journalistin und Dekanin des Tagore Institute of Peace Studies. Sie lebt in Kolkata und Delhi.
aroyghatak1956@gmail.com 
 
