Nachhaltigkeit

Rio20+

20 Jahre nach dem Weltgipfel von Rio de Janeiro will die UN abermals in Rio Bilanz ziehen. Aus Sicht von Hans-Peter Repnik reicht das nicht. Der Vorsitzende des deutschen Rats für Nach­haltigkeit fordert einen neuen Aufbruch.

Von Hans-Peter Repnik

1992 hat der Rio-Gipfel die beiden Begriffe Umwelt und Entwicklung zusammengebracht. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung sollen Bedürfnisse der heutigen Generationen im Hinblick auf Klima, Umwelt, Finanzen und soziale Sicherheit auf eine Weise befriedigt werden, dass das auch in Zukunft möglich ist. Seither hat die internationale Umweltpolitik viele Aufgaben in Angriff genommen und in einzelnen Punkten Erfolge erzielt, aber insgesamt ist zu wenig geschehen. Das Ziel ist aktueller denn je; durch eine wachsende Weltwirtschaft nimmt die Bedrohung der Umwelt zu. Der Klimawandel ist nur das sichtbarste Zeichen. Entwicklungsbemühungen sind zu häufig im Geldmangel sowie in Ausbeutung, Korruption und Unruhen stecken geblieben.

20 Jahre später soll die Entwicklungs- und Umweltpolitik mit der Wirtschaftspolitik verzahnt werden. Das ist überfällig. Die Prinzipien nachhaltiger Entwicklung müssen in Politik und Wirtschaft grundlegend und international verankert werden. Die Vereinten Nationen haben beschlossen, in Rio 2012 über das nachhaltige Wirtschaften im Rahmen nachhaltiger Entwicklung und Armutsminderung sowie die Reform der internationalen Institutionen für Umwelt und Nachhaltigkeit zu sprechen.

Die Trends zur Globalisierung mit dem politischen Impuls der Nachhaltigkeit zu verbinden, ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen dieses Jahrhunderts. Politik und Staat müssen für wichtige Rahmenbedingungen und Mindestanforderungen an Sozial- und Umweltstandards und Infrastrukturen sorgen, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Aber insgesamt kann Nachhaltigkeit nicht allein staatlich verordnet werden. Das gilt national wie international. Es bedarf des Zusammenspiels aller gesellschaftlichen Akteure.

Kein Unternehmen und keine Institu­tion sind von dem schrittweisen Wandel hin zu einer auf den Prinzipien der Nachhaltigkeit beruhenden sozialen Marktwirtschaft ausgeschlossen. Wir haben hier noch einen weiten Weg zu gehen, bevor zufrieden stellende Lösungen geschaffen sind. Deshalb ist es wichtig, dass Rio 2012 die richtigen Weichen stellt. Rückblick muss mit Zukunftsvision verbunden werden. Das offi­zielle Motto „Rio+20“ greift zu kurz. Es rückt das Jubiläum in den Vordergrund. Vielmehr muss es aber um den Blick nach vorne, um Zukunft und die nächsten Schritte gehen. Daher spreche ich von Rio20+.

Rio 1992 hatte eine große politische Strahlkraft: Als Geburtsstunde für die multilateralen Regelwerke zum globalen Umweltschutz und als Startpunkt für die Nachhaltigkeitsstrategien auf allen Ebenen. Seit 2002 gibt es in Deutschland eine Nationale Nachhaltigkeitsstrategie mit Zielen, Indikatoren und Managementregeln. Neue Arbeits- und Verantwortungsstrukturen sind im Parlament und in der Regierung geschaffen worden. Seit einigen Jahren stellen sich maßgebliche Unternehmen der Herausforderung der Nachhaltigkeit. Der Begriff Nachhaltigkeit ist aus der Nische heraus­gekommen. Noch ist er nicht überall eta­bliert und noch wird oftmals Sinnfremdes mit ihm verbunden. Aber trotz allem ist nicht zu übersehen, dass die Idee der Nachhaltigkeit gesellschaftliche Kraft gewinnt.

Für eine neue Agenda

Jetzt kommt es darauf an, Nachhaltigkeit mit Visionen zu verbinden und praktisch zu machen.
– Die Rio-Agenda von 1992 steht für Kooperation und Integration, Aufbruch und neues Denken. Das muss 2012 erneuert und verbreitert werden.
– Die Rio-Agenda steht – auch im Klimaschutz – für wirksame internationale Vereinbarungen. Hier müssen alle den
Beweis antreten, dass sie nicht die Generation der Konferenz-Macher sind, sondern dass sie wirksam werden, und zwar über den Tag hinaus.
– Die Bundesregierung sollte ein starkes Signal für die Aktualität des Rio-Prozesses und seine Zukunftsrelevanz senden. Ich empfehle sehr, die Entscheidung zur nationalen Energiewende und den überall zu spürenden Aufbruch zu „sustain­ability – made in Germany“ besser und breiter zu kommunizieren und anderen damit Mut zu machen.
– Schritt für Schritt muss sich unsere Art zu wirtschaften von den fossilen Energieträgern entwöhnen. Die Alternativen liegen auf kohlenstoffarmen Wegen, bei den erneuerbaren Energien und einem effizienten Umgang mit Energie. Das rasante Wachstum der globalen Wirtschaftsleistung und der globalen Direktinvestitionsströme ermöglicht uns diesen Umbau. Er ist unausweichlich angesichts des Tempos der Urbanisierung, des Wachstums der Bevölkerung, des globalen Ressourcenverbrauchs und der Klimagase oder des globalen Verlustes der Biodiversität.
– Nachhaltigkeit sollte in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gestärkt werden. Dies beinhaltet, die Erfahrungen nationaler Umwelt- und Nachhaltigkeitsräte Europas auszuwerten und in die Beratung zu institutionellen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung einfließen zu lassen. Ebenso sollten kleine und mittlere Unternehmen, die in besonderer Weise das Konzept einer nachhaltigen Wirtschaft umsetzen, politische Unterstützung finden.
– Europa ist aufgefordert, seine Nachhaltigkeitspolitik im Hinblick auf die Rio-Ziele auf den Prüfstand zu stellen. Die Überarbeitung der Europäischen Nachhaltigkeitsstrategie ist überfällig und sollte sich durchaus dem Nachhaltigkeitskodex verschreiben. Er misst die Unternehmensleistungen zur Nachhaltigkeit weltweit auf den Finanz- und Kapitalmärkten.

Wachstum darf nicht länger auf Raubbau beruhen. Es geht darum, Systemlösungen für die nachhaltige Stadt, die nachhaltige Mobilität, den nachhaltigen Ressourcenverbrauch oder den nachhaltigen Konsum zu schaffen. Das verspricht ein neues Wachstum bisher nicht gekannten Maßes:
– Effektiver Klimaschutz erfordert, die energetische Basis der Produktion und des Konsums von Grund auf zu verändern.
– Die Mobilität für bald neun Milliarden Menschen mit steigenden Lebensansprüchen zu sichern, setzt die Suche nach völlig neuen Konzepten für die Fortbewegung voraus und erfordert, sie am Ende auch baulich zu ermöglichen.
– Die Ernährung für neun Milliarden Menschen ohne Vergeudung und Umweltschäden erfordert den Übergang in eine neue Ära der Produktion und der Verteilung von Ressourcenzugängen.
– Gerechter Zugang zu endlichen Ressourcen heißt, sie nicht länger zu Abfällen zu degradieren, sondern weiter zu nutzen und zur industriellen Diversifizierung beizutragen.

Ein neues Konzept für Wachstum ist erforderlich. Es muss darum gehen, strategisch die Infrastrukturen für ein nachhaltiges Wirtschaften zu schaffen und den Markt zu Investitionen zu befähigen und zu ermutigen. Es muss für verlässliche Signale zwischen den Marktteilnehmern sorgen, die Ziele, Schritte und Orientierungen auf Nachhaltigkeit geben.

Ein Plus an Solidarität

Ich plädiere dafür, Rio 2012 ernst zu nehmen, sogar ernster, als es die beiden offi­ziellen Agenda-Punkte („Green Economy“ und „Institutionelle Rahmenbedingungen für Nachhaltigkeit“) zunächst signalisieren. Eine Welt, die Ressourcen verbraucht, statt sie zu bewahren, die Armut zulässt, statt sie zu beseitigen, die massenweise Finanzressourcen und Wohlstand entwertet – diese Welt erfordert von uns allen mehr Mut und mehr Engagement.

Warum sollten wir von Rio20+ nicht ein Plus an Solidarität erwarten? Warum sollten wir nicht das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung verbindlich machen? Warum sollten umwelt- und klimafreundliche Technologien nicht allen Staaten der Welt zugänglich sein? Indem wir die intellektuellen Eigentumsrechte flexibilisieren! Indem wir den Transfer von sauberer Technologie vereinfachen und ermöglichen! Indem wir Netzwerke, Kompetenzen und Kapazitäten aufbauen und für Investitionen in lokale Produktion und Wertschöpfung vor Ort nutzen!

Kooperation und Kommunikation sowie die Erarbeitung von praktischen und wirksamen Roadmaps gelingen nur in dem Bemühen um partnerschaftliche Allianzen. Roadmaps sind auf europäischer und deutscher Ebene teils schon unterwegs. Wichtig sind die Themen Energieeffizienz, Elektromobilität, Biomasse, Klima, Verkehr, Ressourceneffizienz. Aber wir brauchen sie auch für die Abfallwirtschaft und das angestrebte vollständige Recycling von Wertstoffen. Wir brauchen sie für den Schutz der Ozeane und im Klimaschutz.

Um es klar zu sagen: Nachhaltigkeit ist nicht ein neues Etikett für den Umweltschutz. Der Nachhaltigkeitspolitik geht es um soziale, ökologische und ökonomische Dimensionen. Mit dieser Ausrichtung, und nur mit dieser, können die großen Herausforderungen angegangen werden. Das ist die Basis für neue Allianzen.

Roadmaps müssen immer – wenn sie wirksam sein sollen – aus der Perspektive der Entscheider formuliert werden und die Spannung zum Beispiel zwischen öffentlichem Interesse und Geschäftsfeld thematisieren. Um über Ziele, Wege und Schritte mit Blick auf die mittel- bis langfristige Entwicklung an konkreten Fakten zu diskutieren, kann die Erarbeitung derartiger Roadmaps ein sinnvolles Mittel sein. Aus meiner Sicht ist auch anzuraten, ihre Entwicklung mit der organisatorischen Aufwertung der Institutionen der globalen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik zu verbinden.

Es ist eine politische Aufgabe, die Menschen auf Rio20+ neugierig zu machen. Natürlich muss es am Ende um diplomatisch klare Mandate und Beschlüsse gehen, aber zuvor muss es – so verstehe ich Politik – um die Herzen der Menschen gehen. Ich weiß, dass „Rio“ mit meinem Leben zu tun hat und erst recht mit dem meiner Kinder und Enkel. Ich bin auch überzeugt, dass diese Ansicht viele Menschen teilen würden. Neugier kommt mit Wissen und mit den eigenen Möglichkeiten zum Handeln. Nur wer Alternativen kennt, sieht und sich auch dafür einsetzt, ist letztlich in einer bedrohten Welt handlungsfähig.

Deshalb ist es der beste Beitrag für eine erfolgreiche Rio-Konferenz, wenn unser Impuls zum Deutschen Aktionstag Nachhaltigkeit zum Beginn des Gipfels am 4. Juni 2012 von möglichst vielen Menschen und Institutionen aufgegriffen wird. Die entwicklungspolitischen Institutionen sind nicht weniger angesprochen als die Oberbürgermeister unserer Städte, die Umweltbewegung, Firmen und Unternehmerpersönlichkeiten, Hochschulen und Studenten, Gewerkschaften und Kirchen, Sportorganisationen, Sparkassen und Medien: Wer zeigen will, dass Nachhaltigkeit nicht nur eine beliebige Floskel ist, der möge sich am Deutschen Aktionstag Nachhaltigkeit beteiligen.

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