Evaluation

Subjektivität zählt

In der ökonomischen Debatte werden gängige Indikatoren zur Messung von Wohlstand und Entwicklung zunehmend hinterfragt. Subjektive Messgrößen helfen, Entwicklung umfassender dar­zustellen. Entsprechende Politikstrategien und Interventionen lassen sich bedarfsgerechter formulieren und Wirkungen werden zeitnah erfassbar.

Von Matthias Großmann und Maya Schnell

Schon seit einiger Zeit wird die Frage debattiert, wie Entwicklung und Wohlstand gemessen und bewertet werden können. Eine Kernthese der 2009 von Präsident Nicolas Sarkozy einberufenen Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress ist: Traditionelle Indikatoren wie das Bruttonationalprodukt (BNP) eignen sich nur bedingt für die Messung von Wohlstand (Stiglitz, Sen und Fitoussi 2009). Lebensqualität sollte als Aspekt von Wohlstand berücksichtigt (siehe Michaelis, E+Z, 2009/12), und objektive Indikatoren sollten mit subjektiven Maßen kombiniert werden.

Bisher dominieren objektive Kennziffern, die wirtschaftliche oder soziodemographische Sachverhalte erfassen. Allein die Weltbank listet über 1000 Entwicklungsindikatoren in ihrer World Development Indicators Database. Zudem gibt es etliche mehrdimensionale Indices, wie etwa den von UNDP erhobenen Human Development Index (HDI) oder den neuen Multidimensional Poverty Index (MPI), für die vergleichende Länder-Rankings erstellt werden. Die meisten Indikatoren spiegeln verschiedene Entwicklungsdimensionen wider.

Aber welche Kennziffern beschreiben denn Entwicklung und Wohlstand am besten? Ist ein höheres Einkommen wichtiger als eine intakte Umwelt? Stellen die Indikatoren wirklich dar, was sie darzustellen vorgeben? Die Beseitigung von Umweltschäden etwa trägt zum Wirtschaftswachstum bei – allerdings wird dabei lediglich die Ausgangslage wiederhergestellt. Ist das Entwicklung?

Die Bewertung basiert nicht nur auf der Art der Indikatoren, sondern auch auf der Qualität zugrunde liegender Daten. Dies ist vor allem in Entwicklungsländern mit schwachen institutionellen Kapazitäten von Bedeutung. Verlässliche – auch historische – Daten sind oft nicht verfügbar; wenn doch, gibt es von Land zu Land erhebliche Unterschiede hinsichtlich Qualität und Erhebungsmethoden. Die beliebten Länder-Rankings bei Entwicklungsindices wie dem HDI spiegeln dabei oft ein relatives Bild wider: Die Neupositionierung eines Landes muss nichts über dessen Entwicklungserfolge aussagen, sondern kann auch etwas mit der Entwicklung anderer Länder zu tun haben.

Der Mensch im Mittelpunkt

Subjektive Indikatoren basieren auf Erkenntnissen aus der Verhaltensökonomik und der Psychologie, wonach Faktoren wie soziale Netzwerke oder Lebenseinstellung das subjektive Wohlbefinden und Verhalten von Menschen beeinflussen. Diese Dimensionen könnten objektive Indikatoren gar nicht erfassen. Subjektives Wohlbefinden beschreibt aber auch, wie jemand seine allgemeinen Lebensbedingungen einschätzt – was wiederum seine Entscheidungen und sein Verhalten beeinflusst. Die Glücksforschung leitet daraus Empfehlungen für eine Verbesserung der individuellen Zufriedenheit ab.

Es gibt Messwerte, die emotionale Bewertungen von Lebensumständen (z. B. Angst) erheben. Andere beziehen sich auf die kognitive Einschätzung der eigenen Lebenszufriedenheit oder der Zufriedenheit mit einem bestimmten Zustand oder Ergebnis.

In der entwicklungspolitischen Debatte werden subjektive Indikatoren zunehmend befürwortet – auch, weil sich das Verständnis von Entwicklung gewandelt hat. Das Konzept der trusteeship hat ausgedient: Akteure, die sich als „entwickelt“ betrachteten, sollten demnach den als „weniger entwickelt“ Angesehenen geeignete Entwicklungsprozesse und Ansätze vorgeben. Mit dem Einzug partizipativer Ansätze und nationaler Entwicklungsstrategien in den 1990er Jahren, wurde auch die Ownership der Partner gestärkt und Entwicklung als partnerschaftlicher Prozess angesehen.

In der Entwicklungszusammenarbeit werden heute Ziele und Entwicklungsprozesse selbst meist partizipativ ausgehandelt und umgesetzt. Entwicklungszusammenarbeit wird als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, wobei der Mensch als Akteur und Betroffener im Zentrum steht. Die Frage, wie die Menschen selbst Entwicklung bewerten, ist entscheidend.

Entwicklung bewerten

Subjektive und objektive Fakten können einander ergänzen und das Bild von Entwicklung abrunden. Studien deuten darauf hin, dass Angehörige ethnischer Minderheiten, Zuwanderer oder informell Beschäftigte oft ein geringeres subjektives Wohlbefinden haben als Mitbürger aus der ethnischen Mehrheit oder mit sicheren Jobs – auch wenn sie das Gleiche verdienen. Auch Existenz und Qualität lokaler Netzwerke wie Familie oder Nachbarschaft beeinflussen die subjektive Wahrnehmung von Armut (Herrera, Razafindra­koto und Roubaud 2006; Conceição und Bandura 2008).

Allerdings widersprechen subjektive Bewertungen zuweilen auch landläufigen Meinungen von Entwicklung: Einkommensungleichheiten werden subjektiv nicht immer negativ gewertet; in Peru etwa korrelieren subjektives Wohlbefinden und Einkommensungleichheit positiv, weil darin die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs gesehen wird. In Madagaskar aber, wo gesellschaftliche Harmonie wichtiger ist, wirken sich große Einkommensunterschiede negativ auf das subjektive Wohlbefinden aus. In China sank die ­Lebenszufriedenheit zwischen 1994 und 2005 sogar, obwohl sich zugleich das reale Pro-Kopf-Einkommen mehr als verdoppelte (Kahnemann und Krueger 2006). Materielle Faktoren beschreiben Zufriedenheit und Wohlbefinden folglich nicht umfassend.

Subjektive Indikatoren liefern demnach wichtige Erkenntnisse für die Anpassung von Politiken und Interventionen an die Bedürfnisse einzelner Länder und ­Bevölkerungsgruppen. Sie können auch sinnvolle Ansatzpunkte aufzeigen.

Wechselwirkungen analysieren

Das Messen und Zuordnen von Wirkungen ist eine Herausforderung in der Entwicklungszusammenarbeit. Subjektive Bewertungen, besonders ihre Veränderung im Laufe der Zeit, könnten viel über die Zufriedenheit der Betroffenen sagen und darüber, wie sie die Wirkung von Interventionen einschätzen.

Um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssektors zu bewerten, wären verschiedene objektive Daten wie etwa die Anzahl der Ärzte, Ausgaben pro Person oder Anzahl von Kliniken erforderlich. Diese müssten über unterschiedliche Quellen und Methoden erhoben werden. Hingegen würde man über eine einzige Frage zur subjektiven Einschätzung schon einen Eindruck gewinnen. Ein Indikator könnte etwa darauf abzielen, die Veränderung bei der Zufriedenheit mit dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu messen. Wirkungen ließen sich dann zuordnen, indem man die Entwicklung der individuellen Zufriedenheit und die Einschätzung der tatsächlichen Umstände betrachtet.

Durch subjektive Indikatoren werden die vielen Dimensionen von Entwicklung greifbarer als durch objektive Indikatoren. So wird es leichter, Politiken und Interventionen für die unterschiedlichen Bedürfnisse zu finden.

Entwicklungsorientierte Maßnahmen sollten auch individuelle Zufriedenheit verbessern – allerdings nicht auf Kosten anderer. Derartige trade-offs erfordern eine entsprechende Steuerung der Maßnahmen und des Entwicklungsprozesses. Notwendig ist aber auch, die Faktoren und Interventionen zu kennen, die individuelle Zufriedenheit und die Einschätzung der tatsächlichen Lebensumstände verbessern. Eine Analyse der Wechselwirkungen zwischen objektiven und subjektiven Faktoren ist daher sinnvoll.

Subjektive Indikatoren lassen sich auch in Entwicklungsländern relativ einfach und schnell erheben, wie die regelmäßigen Umfragen durch das Afrobarometer oder Gallup World Poll zeigen. Um aussagestark und zuverlässig zu sein, müssen auch subjektive Indikatoren Anforderungen erfüllen. Sprachliche und kulturelle Unterschiede etwa beeinflussen die Art, wie Fragen beantwortet und bewertet werden. Mit stringenten Umfrage-Designs lassen sich diese Probleme aber beheben. Auch sind Strukturen und Verfahren zur Datenerhebung und -auswertung in den Entwicklungsländern zentral. Die EZ kann zum Aufbau der erforderlichen Kapazitäten beitragen.

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