Demokratie

Noch ein weiter Weg

Tunesien scheint das einzige Land zu sein, in dem der so genannte arabische Frühling 2011 Erfolg brachte. Es gilt als die einzige echte Demokratie in der arabischen Welt, hat aber mit massiven Problemen zu kämpfen.
Feierlichkeit in Tunis 2013 zum zweiten Jahrestag der Aufstände,  die den Langzeitdiktator Zine El Abidine Ben Ali zu Fall brachten. abaca/picture-alliance Feierlichkeit in Tunis 2013 zum zweiten Jahrestag der Aufstände, die den Langzeitdiktator Zine El Abidine Ben Ali zu Fall brachten.

Das tunesische Quartett für den na­tionalen Dialog, das Aktivisten, Rechtsanwälte, Gewerkschaftsführer und Unternehmer umfasst, hat den diesjährigen Friedensnobelpreis im Oktober bekommen. Es hat mitgeholfen, eine neue Verfassung zu schreiben und zu verabschieden. Diese hat zu einer demokratisch gewählten Regierung geführt und einen Bürgerkrieg oder Militärcoups wie in Libyen, Syrien, Jemen oder Ägypten verhindert.

Viele junge Leute, die damals mitdemonstrierten, haben dies in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Reformen und das Ende von politischer Unterdrückung getan. Aber nun herrscht „großer Frust über die Ergebnisse des arabischen Frühlings, der zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Entwicklung“ führen sollte, sagt Nabila Hamza, eine tunesische Frauenrechtlerin und frühere Vorsitzende der zivilgesellschaftlichen Foundation for the Future.

Hamza spricht von wachsendem „Zweifel und Hoffnungslosigkeit“ in Bezug auf die Terrormiliz ISIS, die in anderen arabischen Ländern wütet, und von einer Angst vor Terrorismus in Tunesien. Ihr Land muss zudem mit einem Zustrom von Flüchtlingen klarkommen. Tunesien, das selbst 11 Millionen Einwohner hat, nahm bereits eine Million Flüchtlinge aus Libyen auf, erklärt Hamza.

Die Frauenrechtlerin erläutert, dass viele Menschen befürchteten, dass die soziale Stabilität, die als Hauptpfeiler der Demokratiebewegung betrachtet wird, dadurch ins Wanken kommen könnte. Anders als andere Länder in der Region ist Tunesien nicht von sektiererischen Kämpfen heimgesucht, und es hat eine große, moderne und relativ gebildete Mittelschicht. Bevor die neue Verfassung verabschiedet wurde, gelang es dem nationalen Dialog einen Konsens auszuhandeln, der die politische Krise zwischen der Regierung, die von einer tunesischen Version der Muslimbrüder geführt wurde, und ihrer säkularen Opposition beendete.

Dennoch sorgen sich die Tunesier über den Einfluss destabilisierender Kräfte. Viele fürchten laut Hamza, dass die Regierungen von Saudi-Arabien, Katar, Iran und der Türkei religiösen Zwist in der ganzen MENA-Region schüren. Die Frauenrechtlerin beteiligte sich im Dezember an einer Veranstaltung in Berlin, die vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) organisiert worden war.

Hamza fordert von den westlichen Staaten mehr Unterstützung für Länder der MENA-Region, die den demokratischen Pfad eingeschlagen haben. Tunesien braucht dringend Investitionen und Strukturreformen, um die Wirtschaft zu modernisieren. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) wuchs 2014 nur um 2,8 Prozent, das war weniger als die von der neuen Regierung vorhergesagten 4 Prozent. Dennoch war das noch besser als der Abschwung, der der Revolution 2011 folgte. Doch ist Tunesien stark von seinen Handelspartnern abhängig – besonders von Europa, das allerdings eigene Wirtschaftsprobleme hat.

„Einem Land wie Tunesien wird kaum geholfen, obwohl es so viel auf dem Weg zur Demokratie erreicht hat – und das trotz der Probleme der Region und der schwierigen wirtschaftlichen Situation“, beklagt Hamza.

Sie lobt Deutschland für sein Engagement für Tunesien, für das es ein wichtiger Partner sei. Dennoch müssen die Menschen eine ökonomische Dividende erhalten, meint sie. Denn es könnte zu Unruhen führen, wenn bei den Leuten Frust über einen zu langsamen Wandel aufkomme.

Nötige Unterstützung

Gabriele Groneberg, sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete und MENA-Expertin, meint, dass wirtschaftliche Unsicherheit die Tür für Terrorismus öffnen könnte: „Wir müssen die Tunesier bei der Ausbildung und mit Wirtschaftskontakten unterstützen, so dass Unternehmen kooperieren können.“ Ihrer Meinung nach sollte Deutschland auch den Gesundheitssektor und die Zivilgesellschaft stärken.

Manche meinen, dass Lehren aus den „samtenen Revolutionen“ in Osteuropa gezogen werden sollten. Silvia von Steinsdorff von der Berliner Humboldt Universität nennt einige Schlüsselfaktoren, die den demokratischen Wandel in diesen Ländern zum Erfolg führten. Dazu gehören eine homogene Gesellschaft, ein starker Konsens der Eliten oder zumindest ein Wille zum Kompromiss.

In ihren Augen war ein anderer wichtiger Anreiz zum Erfolg, die Aussicht auf einen Beitritt zur Europäischen Union (EU), nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war. Dieses Ziel schien vielen Osteuropäern attraktiv. Die EU-Mitgliedschaft war nur durch eine erfolgreiche Transformation hin zu freien Wahlen und einer marktorientierten Wirtschaftspolitik möglich.

Entscheidend ist auch, dass die osteuropäische Demokratiebewegung vor dem 11. September 2001 und somit in einem ganz anderen geopolitischen Kontext stattfand, betont Steinsdorff. Religion spielte in postkommunistischen Ländern praktische keine Rolle.

Hamza meint, dass EU-Unterstützung – ob symbolisch oder finanziell – entscheidend für den Erfolg osteuropäischer Staaten war. Sie bedauert, dass Demokratiebewegungen in der MENA-Region diesen Rückhalt nicht bekämen: Osteuropa bekam immer eine „große Unterstützung von Europa, von der NATO und von den USA“, sagt sie, aber „die internationale Situation war immer sehr ungünstig für die arabische Welt“.

Viele Menschen in der Region zweifelten jetzt am Engagement der westlichen Mächte für ihre Belange, erklärt Hamza. Ihrer Aussage nach glauben sogar manche, dass die Aufstände ein Produkt westlicher Verschwörung waren, ebenso wie ISIS. „Es gibt viele Leute, die glauben, dass der Westen wirtschaftliche Interessen hat, aber kein Interesse an demokratischem Wandel“, erklärt Hamza.

Verschwörungstheorien florieren in einer Region, die seit Jahrhunderten unter autoritärer Herrschaft leidet. Außerdem wissen Experten, dass Unmut über die Kolonialzeit noch immer die Ansicht der Menschen prägt und dass beispielsweise Ägyptens Muslimbrüder die heiligen Schriften ursprünglich mit einer antiimperialistischen Geisteshaltung studierten. Im Gegensatz dazu fühlen sich Europäer nicht mehr für die früheren Kolonien ihrer Länder verantwortlich. Was Europäer und Menschen aus der MENA-Region über ihre gemeinsame Geschichte wissen, unterscheidet sich grundlegend. Vielen Europäern ist nicht klar, dass die westliche Rhetorik von Menschenrechten und Demokratie in den Ohren vieler Araber hohl klingt.

Hamzas Ansicht nach waren die Bewegungen des arabischen Frühlings richtig, trotz allem, was passiert ist. Sie schätzt den „Hoffnungsschimmer“. Sie findet, dass die Straße zeitweise gewonnen hat und die Zivilgesellschaft „eine Mauer des Schweigens“ gebrochen hat. Sie resümiert: „Es war richtig zu revoltieren, aber wir haben noch immer einen langen, steinigen Weg vor uns.“

Ellen Thalman

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