Handwerk

Kanthas andauernde Schönheit

Traditionelle Stickerei ändert heute das Leben vieler bengalischer Dorffrauen auf positive Weise. Was einmal bloßer Zeitvertreib war, wird heute geschäftlich betrieben – und schafft so neue Chancen.
Eine Tagesdecke mit Kantha-Stickerei. Abdul Malek Babul/Lineair Eine Tagesdecke mit Kantha-Stickerei.

Im Lauf seines Lebens hatte der über 80jährige Ghazi Dewan (Name geändert) die Pässe vier verschiedener Staaten: Britisch Indien, Indien, Pakistan (weil er vom indischen Westbengalen ins pakistanische Ostbengalen zog) und Bangladesch (wie das von Pakistan unabhängig gewordene Ostbengalen seit 1971 heißt). Mit dem Pass Bangladeschs reiste er kürzlich nach Kolkata, wie Kalkutta heute heißt, um eine Ausstellung über die Stickereitradition Kantha zu besuchen.

Die Ausstellung hieß „Das Nadelöhr“ und wurde vom Handwerksrat Westbengalens veranstaltet. Thema war ein Brauch, der in allen Gegenden Bengalens verbreitet ist. Die unausgesprochene Botschaft war, dass Kunsthandwerk von Frauen heute ihrer ökonomischen Unabhängigkeit dient.

Kantha ist Stickerei mit bunten Fäden, wie sie ähnlich weltweit üblich ist. Bengalische Frauen haben aber eine kaum vorstellbare Kunstfertigkeit entwickelt, die Ghazi Dewan schon in seiner Jugend faszinierte. Er schaute zu, wie die flinken Finger seiner Mutter, seiner Tanten und sowie der Haushaltshilfen in Kalkutta zu Hause kleine Kunstwerke hervorbrachten.

Kantha war bei Frauen aus allen sozialen Schichten beliebt. Die Tradition wurde von einer Generation an die nächste weitergereicht – ob in Ost- oder Westbengalen. Das Kunsthandwerk wurde von Generation zu Generation raffinierter.


Symbol der Emanzipation

Heute symbolisiert Kantha sozioökonomische Emanzipation. Stickereien aus dem Ganges-Delta sind auf dem ganzen Subkontinent und darüber hinaus ein Verkaufsschlager. Sogar Modedesigner in Mailand kooperieren heute mit Kantha-Produzentinnen.

Die einfachsten Kantha-Stickereien sind geometrische Muster. Naturmotive sind schwieriger anzufertigen – beliebt sind beispielsweise Tauben, Eulen und Papageien. Manche Frauen stellen auch Alltagsszenen dar, andere wählen religiöse Themen. Auch Gedichte inspirieren Handwerkerinnen zu Stickereien. Typisch sind kleinteilig gestickte Rahmen.

Die Tradition lebt in Indien und Bangladesch. Seit mindestens 300 Jahren sind bengalische Frauen dafür bekannt. Manche Historiker sehen die Ursprünge von Kantha in der Antike.

Das Kunsthandwerk ist alt, aber seine Attraktivität ist modern – ethnisch und global zu gleich, elementar, aber chic, einfach und dennoch vielschichtig. Es faszinierte auch die bekannte, 1993 verstorbene Kunsthistorikerin Stella Kramrisch. Die Stickereien verwandelten aus ihrer Sicht „Chaos zu Schönheit“. Sie behauptete, sie höre in allen Motiven, wie die Stimmen der Stickerinnen ihre Lebensgeschichten erzählten. Wer bengalische Dörfer kennt, weiß, dass viele analphabetische Frauen sich mit Kantha artikulieren.

Manche sind zu arm, um sich Fäden kaufen zu können, und sie verwenden dann Fasern abgelegter Kleidungsstücke. Manche verkaufen ihre Stickereien, um das Einkommen der Ehemänner zu ergänzen und die Kinder ordentlich zu ernähren. Kantha ist Ausdruck ökologischer Ethik im zeitgenössischen Leben, denn die Handwerkerinnen verwenden alte und zerrissene Textilien. Sie brauchen für ihre Kunst auch keine Maschinen, keinen Brennstoff und keinen Strom. Sie sticken am Nachmittag, wenn die Feld- und Hausarbeit verrichtet ist.

Im ländlichen Bengalen wächst die Bedeutung Kanthas als Erwerbschance. Auf beiden Seiten der Grenze ist das Leben der Dorffrauen immer noch recht hart. Viele werden jung verheiratet, manchmal noch als Kinder. Sehr oft werden sie dann vom Ehemann und den Schwiegereltern ausgebeutet. Viele leiden unter Mangelernährung oder sogar Hunger. Unzählige Frauen betreiben Kantha, um etwas finanzielle Freiheit und persönliche Würde zu finden.

Der Markt für ihre Produkte ist rasant gewachsen. In Westbengalen sind 60 000 Kantha-Stickerinnen registriert – und Tausende andere arbeiten ohne Registrierung.

Als erster erkannte Rabindranath Tagore, der als Dichter 1913 den Literaturnobelpreis gewann, die Kultur Bengalens aber auf vielfache Weise prägte (siehe Kasten), das kommerzielle Potenzial dieses Kunsthandwerks. Später machte Mahatma Gandhi solche Traditionen zum Symbol des Freiheitskampfes und hoffte, entsprechende Erwerbstätigkeit werde den ländlichen Lebensstandard steigern. Nach der Unabhängigkeit förderten in Indien die Bundes- und Landesregierungen das Kunsthandwerk mit Schulungen, Finanzhilfen und Vermarktungsinitiativen. In den vergangenen Jahrzehnten ist dann die Kaufkraft in den Städten schnell gewachsen, und auch Privatfirmen sind in den Vertrieb eingestiegen.

Kleidung und Haushaltstextilien mit Kantha-Motiven sind heute beliebt – es gibt auch Mützen für Teekannen, Tischmatten und dergleichen mehr. Traditionelle Ausdrucksformen dienen nun als Stilmittel urbanen Selbstverständnisses.

Die finanziellen Vorteile fließen ausschließlich Frauen zu. Kantha-Produktion ist eine weibliche Tätigkeit. In doppelter Hinsicht gibt es aber Wandel: Frauen haben immer mehr Einfluss darauf, wie ihre Einnahmen verwendet werden, und ihre soziale Wertschätzung ist gestiegen.

Kantha trägt dazu bei, Geschlechterrollen zu verändern. „Kauf dieses Kleidungsstück“, forderte Monimala Pramanik einen Ausstellungsbesucher in Kolkata auf, „damit ich meine Tochter aufs College schicken kann“. Die Stickerin kennt den Wert ihrer Arbeit – sowie der Hochschulbildung ihrer Töchter. Noch vor zehn Jahren wäre das ungewöhnlich gewesen.

Shabnam Ramaswami kommt aus einer konservativen, muslimischen Familie und ist als Kantha-Unternehmerin recht erfolgreich. Ihre Firma heißt Stree Shakti (Macht der Frau) und gibt rund 1500 Stickerinnen Arbeit. Ein Teil des Gewinns investiert Stree Shakti in Schulen. Ramaswami sagt: „Kantha reißt Löcher in die überkommene Sozialstruktur.“

Die Jagriti Public School in einem Dorf im Murshidabad Distrikt wird mit Kantha-Geld finanziert und von zivilgesellschaftlichen Trägern betrieben. Das Dorf war früher recht konservativ, aber heute fahren Frauen auf Fahrrädern oder sogar Mopeds umher. 700 Mädchen, die überwiegend keine wohlhabenden Eltern haben, besuchen diese Sekundarschule. Unterrichtet wird auf Englisch, denn die Sprache der früheren Kolonialmacht ist für den beruflichen Erfolg immer noch wichtig. In staatlichen Schulen wird sie aber nach Hindi erst als zweite Fremdsprache gelehrt. Viele Privatschulen unterrichten dagegen komplett auf Englisch.

Was einmal bloßer Zeitvertreib war, ist zu echter Erwerbstätigkeit geworden. Die handwerkliche Tradition wird aber immer noch von alten Frauen an junge Mädchen weitergegeben. Wie seit jeher führt die Welterfahrung der Frauen die Nadel. Die zeitlose Schönheit von Kantha lebt weiter – und das brachte Ghazi Dewan dazu, die weite Reise nach Kolkata anzutreten.


Aditi Roy Ghatak ist Wirtschaftsjournalistin und lebt in Kolkata (früher Kalkutta).
aroyghatak1956@gmail.com

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