Wissenschaft

Verborgene Verbindungen

Zahlreiche Brücken verbinden Wissenschaft und praktische Entwicklungspolitik. Forscher und Entscheidungsträger können voneinander lernen. Das ist öfter der Fall, als es den Anschein haben mag.

Von Michael Bohnet

Zwischen Wissenschaft und Entwicklungspolitik gibt es einen ständigen Übersetzungs- und Rückübersetzungsprozess, der für beide Seiten von Vorteil ist: Praktische Erfahrungen beschleunigen den wissenschaftlichen Fortschritt und Entscheidungsträger bauen auf Informa­tionen aus der Wissenschaft. Oft hat es jedoch den Anschein, dass beide Seiten sich kaum treffen und Forschung die Praxis nicht beeinflusst.

Das liegt unter anderem an den vermeintlich getrennten Informationswelten: einerseits die Welt der Bücher und Aufsätze, in denen die Verfasser vornehmlich die Fachkollegen zitieren. Die Autoren überschätzen gerne die „Weisheit“ der Wissenschaft und unterschätzen das Wissen, das sie von den Praktikern gewinnen könnten. Andererseits die Welt der entwicklungspolitischen Konzeptionspapiere, Materialen, Sektor- und Grundsatzpapiere. Diese vermeiden es oft sorgfältig, Bücher und Aufsätze zu zitieren. Der Verfasser würde sich sonst dem Vorwurf seiner Kollegen aussetzen, sein Papier sei bereits veraltet: Nicht nur Gerüchte besagten dies, auch die Lebenserfahrung lehre ihn, dass der obligate Sammelband erst dann veröffentlicht werde, wenn das Problem in der Praxis schon gelöst sei.

Und noch aus einem anderen Grund sind Bücher für die Praxis „gefährlich“: Ein Beamter, der im Dienst ein Buch lesend angetroffen wird, läuft Gefahr, sofort in ein Referat versetzt zu werden, in dem „richtige“ Arbeit ansteht. Auch aufgrund des permanenten Zeitdrucks nehmen Praktiker häufig alles, was eine ISBN-Nummer trägt, nicht wahr. Für den Beamten gilt die Grundregel: In den Akten ruht die Wahrheit.

In Wirklichkeit ist der Einfluss der Theorie auf konkrete Entwicklungsstrategien dennoch relativ stark. Im Folgenden werden acht Übertragungskanäle skizziert, durch die wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder den Weg in die Politik finden.

Acht Brücken zwischen Theorie und Praxis

1. Trotz der ironischen Vorbemerkung: Es gibt natürlich genügend Praktiker, die sich durch Bücher und Aufsätze kundig machen, naturgemäß am stärksten während ihrer „Lehr- und Wanderjahre“.

2. Fachzeitschriften wie „Entwicklung und Zusammenarbeit“ und „Weltsichten“ werden in der Praxis stärker wahrgenommen als Bücher. So haben zum Beispiel die Aufsätze zur Krisenprävention in E+Z/D+C 1999/4 die strategische Konzeption des Entwicklungsministeriums (BMZ) wesentlich beeinflusst.

3. Wissenschaftliche Gutachten entstehen im Auftrag der Praxis aus einem konkreten Bedarf heraus und haben deshalb zuweilen großen Einfluss. Auftraggeber und Auftragnehmer diskutieren die Forschungsberichte und häufig ist der Dialog wichtiger als das geschriebene Papier. So hat beispielsweise der im Auftrag des BMZ erstellte Forschungsbericht zu den Auswirkungen der Entwicklungszusammenarbeit auf den Wirtschaftsstandort Deutschland die konkrete Entwicklungspolitik stark beeinflusst.

4. Der Wissenschaftliche Beirat, der vor kurzem abgeschafft und durch einen Innovationsbeirat ersetzt wurde, sorgte für kontinuierlichen Dialog und gegenseitige Lernprozesse. Ein Bespiel: Der 5-Punkte-Kriterienkatalog des BMZ, der die Planung der Länderquoten bis heute mitbestimmt, entstand auf der Grundlage eines seiner Gutachten mit dem Titel „Grundsätze und Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit der 90er Jahre“.

5. Auch die Anhörungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit prägen die Entwicklungspolitik. So beeinflussten die Anhörungen zur „Nord-Süd-Verflechtung“ aus dem Jahre 1979 die Formulierung der entwicklungspo­litischen Grundlinien der Bundesregierung von 1981.

6. Enquête-Kommissionen zeigen erhebliche Wirkung: So trug die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags zum Schutz der Erdatmosphäre, an der eine Vielzahl von Wissenschaftlern mitgearbeitet hat, wesentlich zur Positionsfindung der Bundesregierung im Vorfeld der UN-Konferenz „Entwicklung und Umwelt“ 1992 bei.

7. Viele Praktiker der Entwicklungspolitik haben in Ausbildung und Studium an der Entwicklungspolitik Interesse gewonnen. Häufig befassten sich ihre ­Diplom- und Doktorarbeiten mit Entwicklungsthemen. Auch zahlreiche wissenschaftliche Mitarbeiter der großen Wirtschaftsforschungsinstitute und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen haben nach ein paar Jahren Theorie den Weg in die Praxis gefunden. Dieser Weg ist wohl der wirksamste Kanal zur
Umsetzung wissenschaftlicher Erkennt­nisse in die Praxis.

8. Nicht zuletzt spielt die öffentliche Diskussion eine wichtige Rolle. So erregt die Veröffentlichung wissenschaftlicher Ergebnisse in den großen Tageszeitungen auch im Ministerium Aufmerksamkeit. Jeder Minister oder jede Ministerin führt wöchentlich interne Pressebesprechungen durch, in denen der Pressereferent die wichtigsten Beiträge der letzten Woche vorstellt, kommentiert und bewertet. Nach meiner Erfahrung haben die dort vorgestellten Artikel erheblichen Einfluss auf die praktische Entscheidungsfindung.

Entscheidende Impulse

Auch auf internationaler Ebene hat die Wissenschaft der Entwicklungspolitik zahlreiche Impulse gegeben. Viele der heutigen Konzepte und Strategien wären ohne wissenschaftliche Vorarbeiten nicht zustande gekommen.

– Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission) analysierte in ihrem Bericht an die Vereinten Nationen 1987 die Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Entwicklung. Damit waren die Grundlagen für das Konzept der dauerhaft ökologisch tragfähigen Entwicklung geschaffen, das mittlerweile international akzeptiert ist. Die Rio-Konferenz 1992 in Brasilien verabschiedete folgerichtig eine völkerrechtlich verbindliche Klimakonvention und eine Artenvielfaltkonvention sowie ein Waldprotokoll zum Schutz der Wälder.

– Entschuldung, Armutsbekämpfung und gute Regierungsführung miteinander zu verbinden war das zentrale Ziel der Kölner Schuldeninitiative für die ärmsten hochverschuldeten Länder (Heavily Indebted Poor Countries). Die deutsche Bundesregierung schlug sie erfolgreich im Juni 1999 auf dem Kölner G8-Gipfel vor. Zu dem bilateralen Schuldenerlass von 70 Milliarden Dollar kam 2005 der multilaterale Schuldenerlass in Höhe von 40 Milliarden Dollar hinzu. Wissenschaftliche Studien bereiteten ihn vor, zum Beispiel jene von Kampfmeyer und Nitsch.

– Wenn sich die Probleme globalisieren, muss sich auch die Politik globalisieren: Sie muss Strukturen aufbauen, die globales Handeln ermöglichen – sogenannte „Global Governance“. Die entscheidenden Grundsteine für diesen neuen Ansatz legten Franz Nuscheler und Dirk Messner mit dem Duisburger Institut für Entwicklung und Frieden. Ihre Denkanstöße haben die Wandlung der deutschen Entwicklungspolitik zu einer globalen Strukturpolitik vorangetrieben.

– Auch waren es Wissenschaftler, die die Debatte um internationale Steuern anstießen. 1972 schlug James Tobin eine ­Finanztransaktionssteuer vor, und 1983 legten Helmut Helmschrott und Stephan Teschner im Auftrag des BMZ eine Studie zum Thema „Nationale und internationale Abgaben zur Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit“ vor. 2001 ließ das BMZ von dem Finanzwissenschaftler Paul Bernd Spahn prüfen, ob eine Devisentransaktionssteuer durchführbar wäre. Er kam zu einem positiven Ergebnis. Nach jahrelangen Diskussionen einigte sich im Mai 2010 die in Berlin regierende schwarz-gelbe Koalition darauf, eine internationale Finanzmarktsteuer anzustreben.

Die Beispiele zeigen: Die Kluft zwischen Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik ist geringer als vielfach beklagt. Es gibt also Tröstungen für den Entwicklungsforscher, der seinen Einfluss auf die Praxis vielfach unterschätzt. Die Wirkungen entfalten sich oft nur langfristig und sind schwer zu verfolgen – und so bleibt allzu oft verborgen, dass etliche wissenschaftliche Erkenntnisse den Weg in die praktische Politik gefunden haben.

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