Reproduktive Gesundheit

Argentiniens neues Abtreibungsgesetz

Gegen alle Widerstände verabschiedete Argentinien Ende 2020 ein wegweisendes Abtreibungsgesetz. Voran ging ein komplexer Prozess, begleitet von politischen Manövern, massiven Protesten und dem Bemühen, von einer schwächelnden Wirtschaft abzulenken.
Frauenrechtsaktivistinnen feiern am 30. Dezember 2020 in Buenos Aires die Verabschiedung des neuen Gesetzes. picture-alliance/ASSOCIATED PRESS/Natacha Pisarenko Frauenrechtsaktivistinnen feiern am 30. Dezember 2020 in Buenos Aires die Verabschiedung des neuen Gesetzes.

Seit Januar 2021 gilt in Argentinien ein neues, wegweisendes Abtreibungsgesetz. Das Gesetz mit der Nummer 27.610 ermöglicht Frauen den Zugang zu Abtreibungen und medizinischer Versorgung bis einschließlich zur 14. Schwangerschaftswoche – und innerhalb von zehn Tagen nach Beantragung.

Das macht Argentinien in dieser Hinsicht zum Vorreiter unter den großen Ländern Lateinamerikas. Mexiko folgte wenig später: Am 7. September 2021 verbot Mexikos Oberster Gerichtshof alle Strafmaßnahmen gegen Abtreibung – eine klare Aufforderung an die mexikanischen Bundesstaaten, das Recht auf Abtreibung zu unterstützen.

Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen ist enorm wichtig. Illegale Abtreibungen sind gefährlich, bisweilen sogar tödlich. Allerdings sind verzweifelte Frauen auf sie angewiesen, deshalb sind sie Usus in Ländern, die Frauen legale Abtreibungen verweigern. Ein solches Verbot bedeutet auch, dass Frauen ungewollt Babys gebären und kein Geld haben, um sie aufzuziehen. Solche Familien bleiben gefangen in Armut. In Gesellschaften, die keine Abtreibungen zulassen, ist außerdem oft auch der Zugang zu Verhütungsmitteln und Sexualaufklärung erschwert (siehe Renate Bähr auf www.dandc.eu). Hinzu kommt, dass Männer – die bekanntlich nicht schwanger werden – Frauen zu ungeschütztem Sex drängen oder sogar zwingen. Wird eine unverheiratete Frau schwanger, kann sie das ihren Ruf kosten – ihren Partner nicht.

Kleinere lateinamerikanische Länder haben ihre Abtreibungsgesetze längst liberalisiert. Kuba erlaubt Abtreibung seit 1965, Guyana seit 1995, Uruguay seit 2012. Dass nun größere Länder wie Argentinien und Mexiko nachziehen, bedeutet für das erzkatholische und sozialkonservative Lateinamerika eine Wende. In Argentinien war der Durchbruch bei den Abtreibungsrechten hart erkämpft. Er resultierte aus dem Zusammenspiel einzigartiger politischer, sozialer und ökonomischer Umstände.

Große Hürden

In der politischen Struktur Argentiniens hat der Präsident viel Macht. Ohne seine Unterstützung kommt ein Gesetzesentwurf nicht voran. Die kleinen und konservativen Provinzen sind im Senat überrepräsentiert, auch die Gouverneure der Bundesstaaten sind sehr einflussreich.

Da konservative Kräfte in Argentinien großen Einfluss haben, dauerte es lange, bis eine Legalisierung der Abtreibungsgesetze überhaupt denkbar wurde. Frauenrechtsinitiativen zielten bis dahin auf andere Themen ab. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts führte Argentinien ein öffentliches Gesundheitsprogramm für Frauen und Mädchen ein. Auch der Zugang zu Verhütungsmitteln wurde besser. Zwischen 2003 und 2007 verabschiedete der Gesetzgeber ein allgemeines Kindergeld, und sexuelle Vielfalt wurde politisch stärker anerkannt.

Abtreibung zu legalisieren blieb aber ein Tabu. In Argentinien war sie nur erlaubt nach einer Vergewaltigung oder wenn die Gesundheit der Mutter gefährdet war – das war Gesetz seit 1921. Die meisten Provinzen setzten es jedoch nicht um. Prominente Fälle von Frauen, die wegen einer Abtreibung strafrechtlich verfolgt wurden, machten alles nur schlimmer. Gesundheitsdienstleister legten Abtreibungen bewusst Steine in den Weg.

2003 begann eine Koalition feministischer Gruppen, mehr Rechte einzufordern. Daraufhin wurden zwischen 2007 und 2014 mehrere Gesetzesentwürfe zur Legalisierung von Abtreibung im Kongress eingebracht, die aber alle scheiterten. Umfassende Abtreibungsrechte wurden verweigert, ebenso Reformen wie die Gleichstellung der Ehe für diverse Paare.

Aber es gab immer wieder Hoffnung. 2012 entschied der Oberste Gerichtshof im Falle einer Jugendlichen, die vergewaltigt worden war, dass manche Abtreibungen erlaubt sind. Demnach kann beim gerichtlichen Entscheid darüber, ob eine Abtreibung zulässig ist, die psychische Gesundheit einer Frau berücksichtigt werden. Dass ein solches Urteil notwendig war, zeigt, wie groß der Widerstand der Gesundheitsbeamten in den Provinzen war.

Trotz dieses Urteils und einer wachsenden feministischen Bewegung war die damalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015) zunächst dagegen, Abtreibung zu erlauben – wie mindestens die Hälfte des regierenden Blocks im Unterhaus des Kongresses. Dass das Staatsoberhaupt die Reform ablehnte, war ein unüberwindbares Hindernis.

Nach drei Amtszeiten in Folge verlor 2015 die peronistische Mitte-links-Partei „Front for Victory“ die Wahlen. Präsident wurde Mauricio Macri (2015-2019), Vorsitzender einer Mitte-rechts-Koalition mit konservativen Tendenzen. Die neue Regierung zerschlug alle Hoffnungen auf eine kurzfristige Legalisierung der Abtreibung.

Auf den Straßen jedoch sah es ganz anders aus. Im Juni 2016 begann eine Welle von Demonstrationen gegen Gewalt gegen Frauen. Unter dem Motto „Ni Una Menos“ („Nicht eine [Frau] weniger“) gewann die Bewegung gegen Femizide an Boden. Indem sie Frauen einbezog, die durch illegale Abtreibung sterben, setzte sich auch für die Legalisierung von Abtreibungen ein. Auf den riesigen Kundgebungen trugen die Demonstrierenden große grüne Tücher.

Politisch willkommene Ablenkung

Auch das Schwächeln der argentinischen Wirtschaft brachte das Thema Abtreibungsrechte wieder auf die Agenda. Anfang 2018 geriet die Inflation außer Kontrolle, die Wirtschaft lag brach. In dieser Situation überraschte Präsident Macri am 1. März in seiner Antrittsrede die Gesetzgeber: Er erlaubte es dem Kongress, sich mit Abtreibung zu befassen.

Viele Beobachter hielten das für den Versuch, von der ökonomischen Misere des Landes abzulenken. Die Wirtschaft brach ein, das Kapital verließ das Land. In diesem Jahr gewährte der Internationale Währungsfonds (IWF) Argentinien den größten Kredit seiner Geschichte.

Der Kongress nahm die Debatte über die Zulassung von Abtreibungen auf. Auch in den Medien und sozialen Netzwerken wurde das Thema sehr hitzig diskutiert, inklusive Hetzkampagnen und grauenhaften Bildern von fiktiven Abtreibungen.

Die untere Kammer des Kongresses billigte schließlich das Abtreibungsgesetz, doch der Senat lehnte es ab. Es zeigte sich der enorme Einfluss der katholischen Kirche und von Senatoren aus kleinen Bundesstaaten. Ähnlich wie in anderen Ländern unterstellten Abtreibungsgegner, dass eine Reform Frauen zu unverantwortlichem Handeln verleite. Dafür, dass Frauen Verhütungsmittel erhalten oder ihre Armut überwinden, hat diese Gruppe allerdings wenig getan. Das zeigt, dass es ihr nicht hauptsächlich um das ungeborene Leben geht – sondern eher darum, Frauen zu kontrollieren.

Die beiden führenden Parteien waren in der Frage gespalten. Die peronistischen Gouverneure der Bundesstaaten lehnten das Gesetz ab, und auch die peronistischen Abgeordneten stimmten mit überwältigender Mehrheit dagegen. Mehr Zustimmung kam aus den Provinzen im Süden und der Provinz Buenos Aires, wo der Anteil an Städtern und Wählern aus der Mittelschicht höher ist. Aber auch hier war die Unterstützung nicht einhellig.

Das Blatt wendete sich, als sich die prominenteste Vertreterin des progressiven Peronismus für das Recht auf Abtreibung aussprach. Die ehemalige Präsidentin Kirchner, nun Senatorin, änderte ihre Haltung und befürwortete die Reform auf Drängen ihrer Wählerbasis – besonders der städtischen Mittelschicht – und als Reaktion auf die Demonstrationen.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 konnten die Wähler klar entscheiden. Auf der einen Seite stand das Bündnis „Frente de Todos“ mit Kirchner und dem Präsidentschaftskandidaten Alberto Fernández, Rechtsanwalt und Ex-Kabinettschef. Sie einten die peronistische Partei und versprachen eine Reform des Abtreibungsrechts. Auf der anderen Seite befand sich die konservative Regierungspartei unter Macris Führung. Sie schnitt bei den Vorwahlen schlecht ab, woraufhin Macri weiter nach rechts rückte und seine Unterstützung für die Änderung des Abtreibungsrechts zurückzog.

„Frente de Todos“ dagegen verabschiedete eine feministische Agenda, die auch die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt für Frauen vorsah. Kurz nach ihrem Wahlsieg legte die neue Regierung dem Kongress ein Abtreibungsgesetz vor, das dieser im Dezember 2020 verabschiedete.

Sozialer Wandel

Die Änderung der Abtreibungspolitik auf Regierungsebene spiegelte einen spürbaren Stimmungswandel in der Bevölkerung wider. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos ist der Anteil der Argentinier, die das Recht auf Abtreibung unter bestimmten Bedingungen befürworten, zwischen 2014 und 2020 von 64 auf 75 Prozent gestiegen. Das Recht der Frau, unter allen Umständen abtreiben zu dürfen, befürworten derzeit etwa 35 Prozent der argentinischen Wähler.

All diese Faktoren – Wirtschaftskrise, Demonstrationen und politische Manöver – trugen zur Verabschiedung des Abtreibungsgesetzes bei. Es mag auch dazu gedient haben, abzulenken: zunächst von der Wirtschaft, dann – unter dem neuen Präsidenten Alberto Fernández – von der Corona-Pandemie.

Im Ergebnis haben argentinische Frauen aber endlich das Recht auf volle reproduktive Selbstbestimmung – ein absoluter Wandel. Dieses historische Ereignis gibt den Frauenrechten in ganz Lateinamerika neuen Schwung.


Virginia Caballero ist politische Analystin und feministisch orientierte Politikwissenschaftlerin.
caballerovirginiaa@gmail.com


María Lía Ghezzi ist politische Analystin und feministisch orientierte Politikwissenschaftlerin.
liaghezzi30@gmail.com

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