Global Governance

Kritik am ­afrikanischen Fokus

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wurde als Weltstrafgericht ins Leben gerufen. Sein bisheriger Fokus auf Subsahara-Afrika bringt ihn aber zunehmend
in Misskredit. Aktuelle Brisanz erhält die Kritik durch die Drohung der Afrika­nischen Union, sich vom IStGH zurückzuziehen.
Bürgerkriegsver­brechen bleiben ­ungesühnt: Flüchtlings­lager in Nord-Darfur. Nabil/AP Photo/picture-alliance Bürgerkriegsver­brechen bleiben ­ungesühnt: Flüchtlings­lager in Nord-Darfur.

Anlass des aktuellen Unmuts der afrikanischen Staatsführer ist die Anklage gegen Kenias Präsidenten Uhuru Kenyatta und seinen Stellverteter William Ruto vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Kenyatta wirft dem Tribunal Rassismus gegen Afrika vor. Manche afrikanische Staats- und Regierungschefs stimmen dem zu und fordern, dass Prozesse gegen amtierende Präsidenten ausgesetzt werden.

In der Tat ist es dem Ansehen des Gerichts nicht dienlich, dass alle bisher eröffneten Verfahren sich auf den afrikanischen Kontinent beziehen. Der Vorwurf des Neokolonialismus oder gar des Rassismus ist jedoch unberechtigt, weil es handfeste rechtliche und faktische Gründe für die bisherige Schwerpunktsetzung gibt. Alle Verfahren – außer Kenia – wurden von den betroffenen Staaten selbst oder vom UN-Sicherheitsrat mit Zustimmung seiner afrikanischen Mitglieder an den IStGH überwiesen.

Auch im Fall Kenias haben zunächst Verhandlungen der Anklagebehörde mit der damaligen Regierung stattgefunden. Die nun Angeklagten, insbesondere Präsident Kenyatta, haben noch im Wahlkampf versichert, dass sie sich den Verfahren stellen werden. Auch darf man nicht vergessen, dass gerade die afrikanischen Staaten maßgeblich an der Errichtung des Gerichtshofs beteiligt waren und mit heute 33 Vertragsstaaten die größte regionale Gruppe stellen.

Zudem sind Afrikaner auch in führender Position am Gericht tätig: Die Chefanklägerin Fatou Bensouda kommt aus Gambia, der Leiter der „Jurisdiction, Complementarity and Cooperation Division" der Anklagebehörde, Pakiso Mochochoko, stammt aus Lesotho, und fünf der derzeit 21 aktiven Richter kommen aus Sub­sahara-Afrika.

Dabei ist gerade auf dem Kontinent die Mission des Tribunals willkommen – nämlich die Verfolgung schwerster internationaler Verbrechen und damit die Abschreckung zukünftiger Verbrechen dieser Art. Aus diesem Grund haben kürzlich 130 afrikanische Nicht­regierungsorganisationen ihre Unterstützung für den Internationalen Strafgerichtshofs bekräftigt und die afrikanischen Regierungen aufgefordert, das IStGH-System weiter zu unterstützen. Dennoch sind von einem Weltstrafgericht natürlich weltweite Ermittlungen zu erwarten, und deshalb ist die Kritik aus Afrika durchaus ernst zu nehmen. Würde Kenia tatsächlich vom Statut zurücktreten und damit den Gerichtshof verlassen, hätte das zwar keine Auswirkungen auf die laufenden Verfahren. Der politische Schaden für den Gerichtshof wäre aber riesengroß, zumal dies möglicherweise der Beginn des Rückzugs zahlreicher afrikanischer und vielleicht auch lateinamerikanischer Staaten sein würde. An­dere Länder des Südens könnten aufhören, ihren Beitritt zu erwägen. Dieses Szenario scheint jedoch nicht sehr wahrscheinlich, obwohl es auf dem Sondergipfel der Afrikanischen Union (AU) in Addis Abeba im Oktober medienwirksam durchgespielt wurde.

Wie dem auch sei, die IStGH-Vertragsstaaten und der UN-Sicherheitsrat müssen sich nun darüber Gedanken machen, wie sie mit der geforderten Immunität amtierender Staats- und Regierungschefs umgehen werden, die vor allem Kenyatta und Ruto, aber auch den sudanesischen Präsidenten Umar Al-Bashir begünstigen würde. Das Thema ist aber über diese Personen hinaus relevant. Da eine solche Immunität vom Statut ausdrücklich ausgeschlossen ist, kann die AU-Forderung nur durch den UN-Sicherheitsrat durchgesetzt werden, und zwar indem dieser die besagten Verfahren – zunächst für ein Jahr, aber verlängerbar – aussetzt. Aus gutem Grund hat der Sicherheitsrat den entsprechenden Vorschlag im November abgelehnt.

 

Neue Konzilianz

Nicht nur die Vertragsstaaten, sondern auch der Gerichtshof nimmt die afrikanischen Bedenken ernst. Dies zeigt sich nicht nur an einem Briefwechsel zwischen dem Präsidium des Gerichts und AU-Vertretern, sondern vor allem an jüngeren Entscheidungen der Chefanklägerin und der Vorverfahrenskammern. Zunächst hat die Chefanklägerin Bensouda am 11. März 2013 die Anklage gegen Francis Kirimi Muthaura, einen kenianischen Politiker und Vertrauten von Präsident Kenyatta, zurückgenommen. Damit hat sie sich erstmals von ihrem Vorgänger Moreno Ocampo, dessen Verfahren sie weiterführen muss, distanziert. Ocampo war oft mehr an Schlagzeilen als an Ergebnissen interessiert (siehe Kai Ambos in E+Z/D+C 2012/01, S. 38), und mit dieser Entscheidung hat seine Nachfolgerin klargemacht, dass sie sich nicht nur im Auftreten von ihm unterscheidet.

Ferner hat Bensouda endlich die Einführung eines „Code of Conduct for the Office of the Prosecutor" verabschiedet, ein Projekt, gegen das sich Moreno Ocampo immer gewehrt hat. Solch ein Verhaltenskodex ist sinnvoll, nicht zuletzt um einseitige Ermittlungen – und damit auch angeblich rassistische Tendenzen – zu verhindern. Zudem haben die Vorverfahrenskammern jüngst zwei wichtige Entscheidungen erlassen, die einen neuen, großzügigeren Umgang mit den afrikanischen Staaten erkennen lassen. Die Vorverfahrenskammer II hat im September 2013 Milde gegenüber der Vertragspartei Nigeria walten lassen.

Dabei geht es darum, dass der vom Tribunal angeklagte sudanesische Präsident Al-Bashir im Juli die Hauptstadt Nigerias Abuja besucht hat, um am AU-Gipfel zu Aids, Tuberkulose und Malaria teilzunehmen. Nigeria war als Vertragspartei des IStGH verpflichtet, dessen Anordnungen zu vollstrecken, also Al-Bashir festzunehmen. Es hat dies aber, wie schon zuvor andere afrikanische Staaten, nicht getan.

Die Vorverfahrenskammer zeigte nun, anders als etwa beim ähnlichen Verhalten von Tschad und Malawi, größere Milde, indem sie weder eine Vertragsverletzung von Nigeria wegen der Nicht-Festnahme feststellte noch den UN-Sicherheitsrat informierte. Im vorliegenden Fall hat Nigeria darauf hingewiesen, dass Al-Bashir nicht auf Einladung Nigerias nach Abuja gekommen sei. Zur Teilnahme an einem AU-Gipfel benötigte er eine solche Einladung überhaupt nicht. Überdies hatte Al-Bashir die Veranstaltung vorzeitig verlassen, so dass man die – eigentlich beabsichtigte – Festnahme nicht habe rechtzeitig vornehmen können.

 

Libysche Fälle

Als weiteres Zugeständnis an afrikanische Befindlichkeiten kann gesehen werden, dass die Vorverfahrens­kammer I kürzlich eine Neubewertung der Situation in Libyen signalisierte. Der UN-Sicherheitsrat hatte den IStGH im Februar 2011 angewiesen, völkerrechtliche Verbrechen im libyschen Bürgerkrieg zu untersuchen. Die Vorverfahrenskammer hat im Juni 2011 Haftbefehle gegen den ehemaligen Staatschef Muammar Gaddafi, seinen Sohn Saif Al-Islam und den ehemaligen Geheimdienstchef Abdullah Al-Senussi erlassen.

Während das Verfahren gegen Gaddafi senior nach dessen Tod im November 2011 für erledigt erklärt wurde, befinden sich Saif und Al-Senussi inzwischen in libyscher Haft. Der Strafgerichtshof hat die libyschen Behörden mehrfach ersucht, die beiden nach Den Haag zu überstellen. Die Libyer verweigerten dies unter Berufung auf den sogenannten Komplementaritätsgrundsatz. Demnach steht es primär den Staaten zu, auf ihrem Territorium begangene Verbrechen zu verfolgen. Dem IStGH komme insoweit nur eine unterstützende Tätigkeit zu. Die primäre Zuständigkeit des Territorialstaats setzt aber voraus, dass dieser willens und in der Lage ist, ein ordnungsgemäßes Verfahren gegen die Beschuldigten durchzuführen. Dies hat die Vorverfahrens­kammer im Mai 2013 im Fall Saifs bestritten, weil die libyschen Ermittlungen nicht denselben Sachverhalt beträfen und Libyen derzeit nicht in der Lage sei, ein ordnungsgemäßes Verfahren durchzuführen.

Anders hat dieselbe Kammer (in gleicher Besetzung!) nun am 11. Oktober im Fall Al-Senussi entschieden: Das Verfahren vor dem IStGH sei unzulässig, weil die libyschen Ermittlungen den gleichen Sachverhalt beträfen und Libyen auch willens und in der Lage sei, das Verfahren ordnungsgemäß zu führen. Diese Kehrtwende ist erstaunlich. Denn die Entführung des libyschen Premierministers Ali Zeidan einen Tag vor dieser Entscheidung hat vielen Libyen-Experten zufolge abermals gezeigt, dass das Land derzeit unregierbar ist. Dafür sprechen aber auch diverse Scharmützel mit Milizen.

Deshalb sei auch kaum davon auszugehen, dass ein funktionierendes innerstaatliches Justizsystem existiert, wie es die Ausübung nationaler Strafverfolgung voraussetzt. So hat auch die belgische Richterin Christine van den Wyngaert in einer durchaus seltsamen Erklärung der Entscheidung ihrer Kammer zwar zugestimmt. Sie hat sich aber zugleich angesichts der Entführung Zeidans bemüßigt gefühlt, auf die „prekäre Sicherheitssituation" („precarious security situation") in Libyen hinzuweisen, deren „weitere Verschlechterung" („further detoriation") auch auf das Al-Senussi-Verfahren Auswirkungen haben könne und damit auf Libyens Fähigkeit, dieses ordnungsgemäß durchzuführen.

Zugeständnisse macht der Strafgerichtshof schließlich auch im Verfahren gegen den kenianischen Präsidenten Kenyatta: Die Frage ist, ob auf die persönliche Anwesenheit der Angeklagten verzichtet werden kann. Dafür hat sich die erstinstanzliche Verhandlungskammer ausgesprochen, dagegen allerdings die Berufungskammer. Nach Redaktionsschluss der Printausgabe Ende November beschlossen die Mitgliedsstaaten, Angeklagten könne auf Antrag erlaubt werden, einzelnen Sitzungen fernzubleiben oder per Videokonferenz teilzunehmen.

 

Ausblick

Trotz allen Widrigkeiten lässt sich nicht bestreiten, dass der Internationale Strafgerichtshof einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung schwerster völkerrechtlicher Verbrechen leistet. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass es sich bei den vor dem Tribunal verhandelten Fällen um komplexe Großverfahren handelt. Der Gerichtshof bleibt eine unverzichtbare Instanz im internationalen Kampf gegen die Straflosigkeit solcher Verbrechen.

Bei allem darf man auch nicht übersehen, dass das Gericht in seiner Ausübung völlig vom Gutdünken der Mitgliedstaaten abhängt sowie von Ländern wie USA, Russland, China und Indien, die nicht beigetreten sind. Denn es hat keine eigenen Vollzugsorgane. So erklärt es sich auch, dass von bisher 25 erlassenen Haftbefehlen elf noch nicht vollstreckt wurden. Wenn aber die Staaten Verdächtige nicht festnehmen und überstellen oder wenn der UN-Sicherheitsrat seinen Überweisungen keine Taten folgen lässt, ist das Gericht machtlos und wird letztlich diskreditiert.

 

Kai Ambos ist Professor für Strafrecht und leitet die Abteilung für ausländisches und internatio­nales Strafrecht am Institut für Kriminalwissenschaften an der Universität Göttingen. Er arbeitet zudem als Richter am Landgericht Göttingen.
kambos@gwdg.de

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