Katastrophenhilfe

Aus der Katastrophe im Ahrtal lernen

Die Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021 hätte weniger schlimm ausfallen können, wenn die Verantwortlichen Lehren aus der Geschichte gezogen hätten. Auch von anderen Ländern kann sich Deutschland in Sachen Katastrophenschutz eine Scheibe abschneiden.
Der Ort Dernau im Ahrtal wurde nahezu komplett geflutet. picture alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt / Geisler-Fotopress Der Ort Dernau im Ahrtal wurde nahezu komplett geflutet.

Am 14. und 15. Juli 2021 kam es aufgrund extremer Regenfälle in Teilen Westeuropas zu katastrophalen Überschwemmungen. In Deutschland starben mehr als 180 Menschen, über 800 Menschen wurden teils schwer verletzt. Die materiellen Schäden liegen im zweistelligen Milliardenbereich. Besonders stark traf es Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Allein an der Ahr, einem Nebenfluss des Rheins, starben 134 Menschen. Im Ahrtal wurden die schlimmen Auswirkungen dieser Naturkatastrophe leider begünstigt durch eine weitere Katastrophe: die Unfähigkeit zu lernen.

Lernen können hätte man, erstens, von der allgemeinen Geschichte: Flüssen spielen im Kontext von Besiedelung seit jeher eine zentrale Rolle. Allerdings haben Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und sektorale Arbeitsteilung die Fließgewässer auf einseitige Nutzungsinteressen reduziert. Dies gilt für viele Regionen der Welt, auch in Deutschland. Immer schärfere Interessenskonflikte führten dazu, dass Flüsse begradigt und kanalisiert wurden, Böden versiegelt und der unmittelbare Risikobereich bebaut. Insbesondere fielen Retentionsräume weg, also Flächen neben den Flüssen, auf denen sich Wasser bei Überflutung ausbreiten kann. All das steigert das Potenzial für schwere gesundheitliche und materielle Schäden bei Überschwemmungen.

Deutschlands Erfahrung mit Hochwässern

Zweitens hätten die Verantwortlichen Lehren aus der jüngeren deutschen Geschichte ziehen können. Deutschland hat durchaus Erfahrung mit Hochwässern, etwa an Rhein, Maas, Elbe, Donau oder Neckar. Hierzu hat insbesondere das Deutsche Komitee für Katastrophenvorsorge (DKKV), eine nationale Plattform aus Behörden, Forschungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, wichtige Beiträge erarbeitet. Aus verschiedenen Bundesländern liegen Erfahrungsberichte vor. Als beispielhaft kann das Hochwasser- und Talsperrenmanagement angesehen werden, das Sachsen seit der Flutkatastrophe an der Elbe 2002 entwickelt hat.

Ein weiteres Beispiel ist die Studie „Stromlagen“. Sie entwarf bereits 2008 verschiedene Szenarien, um Lösungen für unterschiedliche Nutzungsinteressen des Rheins zu entwickeln, darunter Arbeiten, Wohnen, Verkehr, Freizeit, Ökologie und Hochwasserschutz. Dazu gehören unter anderem Risikokartierungen mit Simulationen von Überschwemmungen und ein einheitliches Wassermanagement über zusammengehörige Einzugsgebiete hinweg. Es mangelt also nicht an Informationen – man muss sie allerdings zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln. Eine der wichtigsten Lehren aus der Vergangenheit besteht darin, dass Flüsse nur ein Element von vielen im „System Wasser“ sind. Sie sind zu verstehen als Bestandteile verzweigter Wassereinzugsgebiete und als dynamische Systeme, von der Quelle bis zur Mündung.

Blick auf andere Länder

Drittens lohnt sich für Deutschland ein Blick auf das, was andere Länder im Katastrophenschutz leisten. Grundsätzlich gilt: Je wohlhabender Gesellschaften sind, desto größer sind die Sachschäden. Je geringer das Einkommen einer Gesellschaft, desto mehr Menschen verlieren ihr Leben oder ihre Gesundheit. Dies trifft selbst auf Länder wie Bangladesch und China zu, die seit Jahrzehnten große Anstrengungen unternehmen, um Wasser durch gezielte Maßnahmen zu regulieren – innergesellschaftlich wie auch multilateral. Beide Länder haben große Fortschritte im Hochwasserschutz erzielt, etwa durch Systeme von Deichen und Schleusen, Kanäle, Ausdehnungsräume, angepasste Bauweisen sowie ein wirksames Informations-, Warn- und Evakuierungssystem (für Bangladesch siehe Saleemul Huq auf www.dandc.eu). Davon ließe sich auch in Deutschland lernen.

Auf der Suche nach Verbesserungspotenzial kann insbesondere auch Japan als Beispiel dienen. Das Land verfügt über eine landesweite, elektronisch verfügbare Risikokartierung mit der Möglichkeit, spezifische Gefährdungen zu simulieren, darunter Flutverläufe, Hangrutschungen, Erdbeben oder Tsunamis. Japan betreibt zudem ein einheitliches, flächendeckendes Informations- und Warnsystem. Die Bevölkerung wird bereits im Kindergarten zu Gefährdungen – vor allem Erdbeben – geschult und trainiert bis ins hohe Alter durch regelmäßige Übungen auf Nachbarschaftsebene. Flucht- und Evakuierungsrouten sind ausgewiesen, Sammelstellen mit Verpflegung und medizinischer Hilfe werden vorgehalten. In allen Kommunen gibt es Krisenzentren, deren Personal regelmäßig geschult und geprüft wird. All das ist auch für die Gefährdungslagen Deutschlands wünschenswert.

Im Ahrtal hätte man schließlich, viertens, auch aus der besonderen Geschichte der Region lernen können. Für die Ahr finden sich neben den regelmäßigen jahreszeitlichen Hochwässern in historischen Quellen 64 überdurchschnittliche Pegel, davon besonders schwere Sommerhochwässer in den Jahren 1601, 1804 und 1910. Es war bekannt, dass das Zusammenwirken von Gewittern, Niederschlägen und dem starken Gefälle der Ahr sowohl extreme Scheitelwellen bewirkt als auch hohe Fließgeschwindigkeiten. Erstere haben große Zerstörungskraft, letztere reduzieren die Zeit, um die Bevölkerung zu warnen und zu reagieren.

Mängel und Versäumnisse

Von all diesen Erkenntnissen war im Ahrtal leider nichts zu sehen. Obgleich zutreffende Warndaten vorlagen, wurden sie ineffektiv übermittelt und kamen bei der Bevölkerung nicht an. Die Krisen- und Katastrophenstäbe der Kommunen wurden viel zu spät alarmiert und einberufen. Die handwerklichen Mängel, von der Erkundung der Lage bis zu ihrer Darstellung, waren vielerorts erheblich. Die Erkenntnisse der Einsatzkräfte versickerten. Auch eine überörtliche Einsatzkoordination ließ extrem lange auf sich warten, mit der Folge, dass die nötige Zusammenarbeit über Organisationen hinweg ausblieb. Vielerorts übernahmen stattdessen unorganisierte Spontanhelfer alle Aufgaben, die eigentlich vom regulären Katastrophenschutz zu erwarten sind.

Angesichts der Vielzahl erheblicher Mängel und Versäumnisse stellt sich die Frage, ob die Verluste an Leben, Gesundheit und Sachwerten vermeidbar gewesen wären. Ganz sicher hätte bei einem effektiven und rechtzeitig agierenden Warnwesen niemand umkommen müssen. Durch einen präventiven und organisierten Katastrophenschutz hätten Ausfälle und Folgeschäden deutlich verringert werden können.

Allgemein fehlt es dem deutschen Katastrophenschutz an realistischem Üben, kompetenter Führung und vor allem eingespielter Kooperation über die Egoismen einzelner Organisationen hinweg. Die Schäden an Infrastruktur und Bebauung im Ahrtal haben dagegen strukturelle Ursachen. Sie sind nur mit grundlegenden Veränderungen zu beseitigen, durch die sich auch der typische Charakter dieser Weinanbauregion veränderte, teils sogar verlöre. Dies gilt es abzuwägen.

Wiederaufbau in Gefahrenzone

Auch andere Abwägungen stehen an – etwa in der Frage, wo in Zukunft noch gebaut werden darf. Im gesamten Ahrtal stehen für Retentionsräume wie auch für ausweichende Bebauungen keine Flächen zur Verfügung. Beinahe zwangsläufig wird deshalb an den alten, gefährdeten Orten wieder aufgebaut, mit politischer Duldung und finanzieller Hilfe von Staat, Versicherern und Spendern. Ausnahmeregelungen ermöglichen ein „wie vorher“ und legen damit buchstäblich den Grundstein für die nächste Katastrophe. Die Versicherer verstärken dies, indem sie oft die Wiedererstellung des Bisherigen bevorzugen gegenüber Erneuerungen, durch die sich die gleichen Schäden vermeiden ließen.

Ganz offensichtlich gelingt es im Ahrtal also nicht, einen übergeordneten, vernunftbasierten Katastrophenschutz gegen die Beharrungskräfte des Naheliegenden durchzusetzen. Bezeichnend dafür sind auch die Reaktionen der Verantwortlichen: Sie üben sich in Schönfärberei und spielen das „blame game“, beschuldigen sich also gegenseitig. Vorgeblich hätte man mit dieser Niederschlagsmenge und dieser Geschwindigkeit nicht rechnen können und prinzipiell sei man „gut aufgestellt“. Vor allem habe man getan, was man konnte. In der Katastrophenforschung sind diese Muster bekannt. Allzu oft sind die anderen oder unbeeinflussbare Umstände schuld, wohingegen man selbst alles richtig gemacht habe.

Die Verantwortlichen müssen ihre Einstellung ändern und sich offen und ehrlich mit den Konsequenzen dieser Katastrophe auseinandersetzen, um künftiges Leid zu vermeiden. Schaden macht nur dann klug, wenn man auch klüger werden will.


Quellen
Deutsches Komitee Katastrophenvorsorge:
www.dkkv.org

Montag Stiftung Urbane Räume (Hg.), 2008: Stromlagen. Urbane Flusslandschaften gestalten. Bonn, Basel, Boston, Berlin, Birkhäuser Verlag.


Wolf R. Dombrowsky ist Professor für Katastrophenmanagement an der Steinbeis-Hochschule in Berlin. Er berät Organisationen, Behörden, Ministerien, Polizei und Bundeswehr zum Umgang mit Katastrophen.
wdombro@gmail.com

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