Kommentar

Die Türkei entgleitet Europa

Die Türkei entfernt sich von der Europäischen Union – die Staatengemeinschaft muss sich darauf vorbereiten.
Erstarktes türkisches Nationalbewusstsein: Erdogan-Unterstützer nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016. picture-alliance/AA Erstarktes türkisches Nationalbewusstsein: Erdogan-Unterstützer nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016.

Seit mehr als einem halben Jahrhundert bemüht sich die Türkei, der EU beizutreten. Im Jahr 2005 begannen nach bemerkenswerten Reformanstrengungen der Türkei die Beitrittsverhandlungen. Doch da war die Luft schon raus. Die Türkei hatte sich zu einem der führenden Schwellenländer entwickelt, das stärkte das nationale Selbstbewusstsein.

Heute ist der Blick auf Europa kritischer, zumal das große Vorbild selbst von Krisen erschüttert ist. Die Türkei hingegen sieht sich selbst nun als Regionalmacht und globalen Akteur. Der Westen ist nicht mehr einziger Partner.

Mit dem syrischen Bürgerkrieg haben sich die außenpolitischen Koordinaten der Türkei nochmals verschoben. Drei Faktoren sind dabei wesentlich: der Staatszerfall im Nahen Osten, der islamistische Terror und die Massenflucht von Kriegsopfern nach Europa. Alle drei Aspekte sind für den Zusammenhalt und die Sicherheit Europas bedeutsam.

Die Kriege im Irak und Syrien haben alte und teilweise neue Gräben zwischen Ethnien und religiösen Gruppen aufgerissen. Die Kurden beweisen, dass sie einer der wirkungsvollsten Gegner der Terrormiliz ISIS sind, und versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihre seit Jahrhunderten ersehnte Autonomie durchzusetzen. Obwohl der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan 2012 den Friedensprozess mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK begonnen hatte, ging er angesichts des neuen kurdischen Selbstbewusstseins wieder zur Konfrontation über.

Zugleich griff die Türkei in den syrischen Bürgerkrieg ein, um den Vormarsch der kurdischen Volksbefreiungskräfte YPG zu verhindern, wobei die Regierung auch nicht davor zurückschreckte, verdeckt mit ISIS zu kooperieren. Seither befindet sich die Türkei im Krieg gegen die Kurden, sowohl zu Hause als auch im Nachbarland. Mit ihrer Intervention in Syrien und dem Irak will sie sicherstellen, bei der späteren Neuordnung des Nahen Ostens ein gewichtiges Wort mitreden zu können. Dazu sucht sie nun den Schulterschluss mit Russland.

In dieser Lage erwächst dem Land durch den Flüchtlingsstrom nach Europa unverhofft eine zusätzliche strategische Bedeutung. Mit dem Flüchtlingsabkommen vom März 2016 hält die Türkei den Schlüssel zur Sicherung der europäischen Außengrenzen in der Hand. Als Gegenleistung stellt die EU die Aufhebung der Visumpflicht für türkische Staatsbürger in Aussicht. Hierfür muss das Land allerdings unter anderem seine Anti-Terror-Gesetze reformieren. Angesichts mehrerer gewaltsam ausgetragener Konflikte, die das Land erschüttern, erscheint dies unwahrscheinlich.

Zum neu entfachten bewaffneten Konflikt mit der PKK kommt nun auch noch der Bombenterror der Islamisten hinzu, nachdem sich die Türkei unter internationalem Druck gezwungen sah, die Unterstützung von ISIS aufzugeben. Der in den vergangenen Jahren zunehmend autoritäre Regierungsstil Erdogans ging seit der Niederschlagung des Militärputsches vom Juli 2016 in offene Repression gegen Andersdenkende und die Gleichschaltung staatlicher Institutionen über. Die Türkei ist selbst zu einem Unruheherd geworden.

Europa und die Türkei haben schon immer miteinander gefremdelt, doch jetzt vollzieht sich eine wachsende Entfremdung zwischen beiden Seiten. Auch wenn es offiziell nicht ausgesprochen wurde, glaubt keiner der Beteiligten noch an den EU-Beitritt der Türkei. Die gegenseitigen Vorwürfe werden heftiger. Während EU-Politiker aus Furcht vor der Beendigung des Flüchtlingsabkommens ihre Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in diplomatische Worte kleiden, ist Erdoğans Eskalationsstrategie längst zum Selbstläufer geworden.

Im Grunde genommen geht es doch jetzt nur noch darum, welche Seite die Beitrittsverhandlungen aussetzt. Für Europa wären damit hohe Risiken verbunden, nicht nur weil mit dem Scheitern des Flüchtlingsabkommens die Migrationsströme wieder anschwellen würden. Die Türkei würde enger an Russland  rücken, und die Lösungen für den Syrienkonflikt würden zusätzlich erschwert.

Auch die Türkei hätte viel zu verlieren, schließlich ist die EU mit Abstand der größte Handelspartner des Landes. Die Jahre hohen Wirtschaftswachstums sind vorbei. Investoren halten sich angesichts der angespannten Sicherheitslage zurück, Touristen suchen sich andere Reiseziele.

Es würde in Erdogans Kalkül passen, wenn die EU nun die Beitrittsverhandlungen aussetzen würde, könnte er doch Europa die Schuld am Scheitern geben. Diesen Gefallen sollte ihm die EU nicht tun, sich aber dennoch auch mit Blick auf das Flüchtlingsabkommen darauf vorbereiten.


Nassir Djafari ist freier Autor.
nassir.djafari@gmx.de

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