Gülen-Bewegung

Eine Elite bilden, die den Staat leitet

Die Bewegung des türkischen Imams Fethullah Gülen breitete sich mit Schulen, Bildungseinrichtungen und Vereinen in viele Länder bis nach Afrika aus. Zahlreiche Experten sehen sie jedoch kritisch: Nach außen hin präsentiere sie sich als offene Bildungsbewegung mit einem moderaten Islamverständnis. Doch in Wirklichkeit habe sie sektenähnliche Strukturen und verfolge eine geheime Agenda. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan betrachtet Gülen mittlerweile sogar als Staatsfeind Nummer eins.
Landesweite Verhaftungswelle von vermeintlichen Gülen-Anhängern innerhalb der Polizei im April 2017 in der Türkei. picture-alliance/AP Photo Landesweite Verhaftungswelle von vermeintlichen Gülen-Anhängern innerhalb der Polizei im April 2017 in der Türkei.

Der heute 76-jährige Fethullah Gülen wurde bereits mit 18 Jahren Imam und gewann in den 1980er Jahren als Wanderprediger immer mehr Anhänger. „Schulen bauen statt Moscheen“ war sein Credo, und er erfreute sich der aktiven Unterstützung säkularer Regierungen zwischen 1986 und 1997. In der Türkei schossen Nachhilfezentren, Studentenheime und Universitäten wie Pilze aus dem Boden und bildeten das finanzielle Fundament der Bewegung. Die Finanzen wurden von der Kaynak-Holding verwaltet. Medienhäuser, Kliniken und ein Kreditinstitut – die Bank Asya – kamen hinzu. Gleichzeitig eröffneten reiche Geschäftsleute in den ehemaligen Sowjetstaaten, insbesondere im Kaukasus, in den neuen Balkanstaaten sowie in Afrika und Mittelasien rund 1000 Schulen in 160 Ländern, die moderne und säkulare Bildung anboten. Deren Aufbau wurde vom türkischen Außenministerium gefördert, die Abschlüsse vom Bildungsministerium anerkannt.

„Gülen wurde zu einem ,Vorzeigemuslim‘ stilisiert, der eine Synthese zwischen islamischen Werten und der vom Kemalismus vorgegebenen Trennung von Islam und Politik anbot“, sagt Islamwissenschaftler Bekim Agai von der Goethe-Universität Frankfurt. Bei einem näheren Blick in die Schriften stelle man jedoch fest, dass sich sein Islamverständnis am konservativen Mainstream orientiert und seine Argumentationen traditionell sind. Sein Ziel sei es, eine fromme Elite auszubilden, die in der Lage ist, den Staat zu leiten und letztlich zu kontrollieren.

So gelang es der Gülen-Bewegung peu à peu, den türkischen Staatsapparat zu unterwandern, schreibt Günter Seufert von der Stiftung Politik und Wissenschaft (SWP) in einer Studie: „Weil das Netzwerk auf die demonstrative Zurschaustellung religiöser Identität verzichtet, aber auch weil Gülen früher mit dem Staat kooperiert hatte, war es Anhängern der Bewegung trotz einiger Säuberungswellen bereits Anfang der 1990er Jahre gelungen, Seilschaften in der Bürokratie zu bilden, besonders in der Polizei, der Justiz, aber auch im Militär.“

Dies erreichte mit dem Wahlsieg der islamisch-konservativen AKP im Jahr 2002 eine neue Dimension. Die Partei um den damaligen Premierminister Erdogan verbündete sich mit den Anhängern Gülens, die bereits im Staatsdienst waren. Beide verfolgten das gleiche Ziel: die Transformation der türkischen Gesellschaft weg von der verhassten kemalistischen Ideologie hin zu einer religiösen Identität.

Fethullah Gülen, der von AKP-Politikern als „verehrter Lehrer“ gepriesen wurde, war da schon längst im Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania. Denn nach einem Putsch vom 28. Februar 1997 wurde der Gülen-Bewegung vorgeworfen, das Militär zu islamisieren.


Kein Bezug zur Türkei und zum Islam

Im Ausland wirkt die Gülen-Bewegung „wie ein globaler Repräsentant von konservativen islamischen Werten und dem Türkentum, der die türkische Sprache und Kultur in der Welt verbreitet“, sagt Bayram Balci, Politikwissenschaftler vom französischen Institut Sciences Po. Den Stiftungen, Bildungs- und Kultureinrichtungen gehe es im Ausland nicht nur darum, die türkischstämmige Bevölkerung zu erreichen, sondern auch die Gastgebergesellschaft. Oft gibt es dort gar keinen Bezug zur Türkei oder zur islamischen Religion. In Westeuropa und den USA setze die Bewegung auf den sozialen Aufstieg benachteiligter Menschen und auf den interreligiösen Dialog mit Christen und Juden, meint Balci. Sie verschleiere oft ihren Bezug zu Gülen. Im Kaukasus und Afrika wurden Unternehmen gegründet und Wirtschaftskooperationen vereinbart. Diese Kontakte machte sich auch die AKP zunutze. Zwischen 2002 und 2013 stieg die Zahl türkischer Botschaften in Afrika von 19 auf 34. „Die Gülen-Anhänger waren die Vorhut der türkischen Soft-Power-Offensive“, erklärt Balci.

Der Investigativjournalist Ahmet Sik bezeichnet diese Aktivitäten der Bewegung als ihr „ziviles Gesicht“, das als Fassade für das „militaristische“ dient. Das zeigte sich erstmals beim sogenannten Ergenekon-Prozess. 2007 wurden hunderte Ex-Militärs, Oppositionspolitiker, Journalisten und Juristen von Gülen-treuen Staatsanwälten angeklagt, einer Geheimorganisation anzugehören, die versucht haben soll, die Regierung zu stürzen. „Mit gefälschten Beweisen und falschen Aussagen machte sie tausenden Menschen das Leben zur Hölle“, sagt Sik. Er selbst wurde 2011 verhaftet – kurz vor der Veröffentlichung seines Buches „Die Armee des Imams“, in dem er die Unterwanderung der Sicherheitsbehörden beschreibt. „Es handelt sich um eine Mafia, die Religion als ein Instrument benutzt, um Macht zu erlangen, und sie funktioniert wie ein Geheimdienst“, beschreibt Sik die sektenähnliche Struktur der Bewegung.

Das legen auch interne E-Mails des US-Sicherheitsberatungsunternehmens Stratfor nahe, die Wikileaks im Jahr 2010 enthüllt hat. Sie zitieren Informanten aus der Bewegung, die von klaren Hierarchien und Befehlsstrukturen sprechen sowie von „Rekrutierungsprozessen“ an den Gülen-Schulen. „Die treuesten Schüler würden gezielt in wichtige Positionen im Staat platziert, die Talentiertesten an die Militärakademie geschickt“, heißt es darin. Gülen selbst bezeichnete in seinen frühen Werken seine Anhänger als „Rekruten“. Diese wurden natürlich in erster Linie in der Türkei rekrutiert, aber auch in den Studentenwohnungen, den sogenannten „Lichthäusern“, die es auch im Westen, unter anderem in den USA und in Deutschland, gibt.

Das US-Magazin „Foreign Policy“ beschrieb schon im Jahr 2010, dass die türkische Regierung zwar die Macht des Militärs zurückgedrängt habe, aber ein neuer „tiefer Staat“ entstanden sei. Das erkannte auch Erdogan und warf den Sondergerichten, die voll von Gülen-Kadern waren, vor, sich wie ein „Staat im Staate“ aufzuführen. In seiner Panik und der Erkenntnis, dass  die Gülen-Bewegung – zu der schätzungsweise zehn bis 15 Prozent der türkischen Bevölkerung zählen – zu viel Macht erlangt hat, kündigte Erdogan im November 2013 an, die Nachhilfeschulen der Bewegung zu schließen. Nur einen Monat später strengte die Gülen-nahe Staatsanwaltschaft am 17. Dezember ein umfassendes Korruptionsermittlungsverfahren gegen Erdogan und sein Umfeld an. Daraufhin erklärte der Staatspräsident die Bewegung zur Fethullaistischen Terrororganisation und Gülen zum Staatsfeind Nummer eins. Zehntausende Staatsanwälte und Polizisten wurden entlassen oder versetzt, Stiftungen und Medienhäuser geschlossen oder vom Staat übernommen.


Drahtzieher des Putschs?

Der Konflikt zwischen Präsident Erdogan und der Gülen-Bewegung eskalierte endgültig mit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 mit über 250 Toten und 2 200 Verletzten. Für die AKP-Regierung war nur Stunden danach klar, dass die Gülenisten dahinterstecken. Ahmet Sik sieht das etwas anders: „Ich denke, es gab ein Bündnis innerhalb des Militärs und die Gülenisten gehörten zu den Drahtziehern. Allerdings haben sich die Mitglieder des Bündnisses in der Nacht vor dem Putschversuch und während der anschließenden Ereignisse gegenseitig verraten“, glaubt er. Der Geheimdienst wusste schon ab 15 Uhr über die Pläne Bescheid und konnte entsprechende Vorkehrungen treffen und mit Teilen des Bündnisses verhandeln. Gareth Jenkins vom schwedischen Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik sieht das ähnlich. Wahrscheinlich hätten Gülen-Offiziere Wind von der nächsten Säuberungswelle im Sicherheitsapparat bekommen und wollten dieser mit einem Putsch zuvorkommen. Dass Gülen die ganze Operation gesteuert haben soll, hält Jenkins für unwahrscheinlich. Beweise gebe es dafür nicht. Ob er davon gewusst hat, sei ebenfalls fraglich.

Den Putsch bezeichnete Erdogan „als ein Geschenk Gottes“ und rief den Ausnahmezustand aus. Er ließ 150 000 Staatsbedienstete aus dem Militär, der Justiz und aus dem Bildungsbereich wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung suspendieren oder entlassen. Mehr als  50 000 wurden verhaftet. Allein bis Oktober 2016 wurden rund 4 500 Firmen und Institutionen verstaatlicht. Mehr als 300 Unternehmen – darunter die Kaynak-Holding – mit einem Wert von fast 12 Milliarden Euro wurden von der türkischen Bankenaufsichtsbehörde übernommen und füllten die Staatskasse. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der kemalistischen CHP nannte das Vorgehen der Regierung einen „zivilen Putsch“.

Auch im Ausland übte die türkische Regierung Druck auf die Staaten aus, in denen die Gülen-Bewegung aktiv ist. In Afrika ist es bereits gelungen, in 19 der 36 Länder die Gülen-Schulen der im Oktober 2016 gegründeten staatlichen Maarif-Stiftung zu übertragen. Die Forderung der Türkei nach der Auslieferung von Gülen wurde von den USA jedoch abgeschmettert, auch die Bundesregierung verweigert der türkischen Regierung die Auslieferung von Gülen-Anhängern, die nach dem Putschversuch nach Deutschland geflohen sind.


Timur Tinç ist Redakteur der Frankfurter Rundschau.
t.tinc@fr.de


Literatur
Seufert, G., 2013: Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen?
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S23_srt.pdf

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