Interview

“Hoffen auf allmähliche Fortschritte”

Seit chinesische Sicherheitskräfte Proteste im März in Tibet unterdrückten, dreht sich die internationale Debatte wieder stark um die mangelhafte Menschenrechtsbilanz der Volksrepublik. Der schwedische Wissenschaftler Håkan Hydén ist Experte für die Rechtssituation in China und beurteilt in einem Interview mit D+C/E+Z die Lage.


[ Interview mit Håkan Hydén ]

Bedeutet das rigorose Vorgehen in Tibet, dass China auf dem Weg zur Rechtsstaatlichkeit die Bremse gezogen hat?
Diese Frage ist aus westlicher Sicht verständlich, aber sie passt nicht in den chinesischen Kontext. Denn in China gilt die Doktrin der Gewaltenteilung nicht, und die Gerichte werden als Teil der Staatsbürokratie verstanden. Beamte, die im Rang über Richtern stehen, fühlen sich daher nicht an Gerichtsurteile gebunden. Was zählt, ist die Weisung des eigenen Vorgesetzten.

Und aus Sicht des Regimes hat Tibet nichts mit Rechtssprechung zu tun, sondern mit Politik.

Ja, so denkt die chinesische Führung.

Wäre es also sinnvoll, die Olympischen Spiele zu boykottieren, damit die Regierung internationale Missbilligung spürt?

Nein. Die Spiele werden ein gesundes Spotlight auf China werfen, so dass die Welt bestehende Schwierigkeiten sehen kann. Langfristig trägt das dazu bei, die Regierung zu bewegen, die Menschenrechtsprinzipien zu akzeptieren.

Aber hatten Wissenschaftler nicht gesagt, dass die Rechtssituation sich gerade verbessere?

So kann man tatsächlich argumentieren. Randall Peerenboom tut das zum Beispiel. Auch Jingwen Zhu hat in einer Studie gezeigt, dass Fortschritte im Rechtssystem zu einem Großteil mit wirtschaftlichem Wachstum zusammenhängen. Franklin Allen, Jun Qian und Meijun Qian
etwa hingegen haben angemerkt, dass China eine der am schnellsten wachsenden Ökonomien ist, obwohl weder das Rechtssystem noch das Finanzsystem weit entwickelt sind. Sie sehen China daher als Ausnahme von der Regel, dass Entwicklung nur im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit funktioniert.

Es gibt also verschiedene Meinungen.

Man darf nicht vergessen, dass China ein Land mit großen Unterschieden ist. Die Entwicklung der 17 Provinzen ist sehr ungleich. Die kommunistische Führung verfolgt eine Strategie des allmählichen Wandels. Ansätze, die auf einen radikalen Wandel gerichtet waren, brachten bisher schließlich nur Fehlschläge. So war es 1950 mit Maos „Großem Sprung Vorwärts“ oder seiner „Kulturrevolution“ Ende der 60er Jahre. Messianische Umwälzungen sind nicht mehr gefragt. Deng Xiaoping sprach davon, „den Fluss zu überqueren, indem man nach den Steinen tastet“. Der Reformprozess ist von langsamen Veränderungen und regionalen Unterschieden gekennzeichnet, wie Natalie Liechtenstein richtig beobachtete. In diesem Kontext setzen die lokalen Gerichte durch, was die lokale politische Führung will.

Verstehe ich Sie richtig: In Shanghai regiert das Gesetz, aber in weiter abgelegenen Gebieten nicht?

Auch diese Frage spiegelt westliches Denken. Die kommunistische Partei hat in China überall das letzte Wort. Aber die wirtschaftliche Reform ist natürlich von der Reform der Gesetze abhängig und beide verlaufen in kleinen Schritten. Dementsprechend eröffnen sich für Juristen oder Manager in Shanghai Spielräume, wenn sie etwa das Arbeitsrecht nutzen, um Streitigkeiten zu schlichten und Probleme in einem Unternehmen zu lösen.

Aber das ist nicht in der ganzen Volksrepublik so?

Das politische, wirtschaftliche und soziale Leben unterscheidet sich in China stark von Region zu Region. Tibet beispielsweise hinkt in seiner sozio-ökonomischen Entwicklung rund 300 Jahre hinter Shanghai oder Beijing her. Die tibetische Gesellschaft ist zum Großteil noch geprägt von Landwirtschaft und Handwerk, während die Metropolen ins Internetzeitalter eintreten.

Bei so unterschiedlichen Gegebenheiten sind die politischen und ökonomischen Bedürfnisse zwangsläufig nicht kompatibel. Wie geht das System mit diesen Spannungen um?

Die Herausforderungen sind gewaltig. Die politischen und ökonomischen Sphären werden zunehmend polarisiert. Aber so war es auch während der Industrialisierung und Entwicklung Europas. Dort entstanden daher Mischsysteme, während Kompromisse rechtlich geregelt wurden. Vertreter verschiedener Interessen verhandelten über Lösungen und Einigungsmöglichkeiten. So konnten die Interessen von Kapital und Arbeiterschaft pragmatisch überein gebracht werden oder die von Umwelt und Industrie. Die politischen Systeme der europäischen Staaten spiegeln diese Dynamik und schaffen dementsprechend bindende Gesetze. Damit das funktioniert, müssen sich die Beteiligten organisieren dürfen – etwa in Gewerkschaften, Umweltgruppen, Verbraucherverbänden.

Was aber in China nicht der Fall ist…

Nein, aber in den größten chinesischen Städten gibt es Druck in diese Richtung. Es ist unmöglich, Politik und Wirtschaft für immer zu trennen. Sie beginnen unweigerlich, aufeinander einzuwirken, wenn das Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern angespannter wird, Umweltkrisen untragbar werden, und Investoren verlässliche Informationen und Sicherheit fordern. Die Gesellschaft muss den diversen Bedürfnissen Rechnung tragen und das ist nur möglich, wenn verschiedene Interessensgruppen – mit anderen Worten die Zivilgesellschaft – einbezogen werden. Im Laufe der Umwandlung Chinas hin zur Marktwirtschaft wird das zunehmend der Fall sein. Im Umweltbereich ist es schon zu beobachten. Zudem gehe ich davon aus, dass auch die jüngsten Arbeitsrechtsreformen in irgendeiner Weise korporativistisch umgesetzt werden, indem Vertreter der verschiedenen Interessensgruppen in die Entscheidungen einbezogen werden.

Aber impliziert das nicht, dass die Menschenrechte bald in Kraft gesetzt werden?

Ökologische und soziale Probleme sind am dringlichsten. Fortschritte werden daher voraussichtlich zuerst auf diesen Gebieten erfolgen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Kommunistische Partei demnächst volle demokratische Freiheiten zulässt. Die Art und Weise, wie sie graduell und experimentierend Wandel in China vorantreibt, basiert schließlich auf ihrer uneingeschränkten Autorität. Andererseits ist den politischen Führern in den fortgeschritteneren Gebieten klar, dass die Gesellschaft komplex ist und sie die Unterstützung ganz verschiedener Leute brauchen. Daher tolerieren sie ein gewisses Maß an Freiheit, das in der Provinz nicht unbedingt gewährt wird. Aber der Ansatz ist per Definition nicht unabänderlich. Große Bürokratien können ihre Meinung ändern, und sie tun das auch. Das ist sogar einfacher, als wenn man festgeschriebene Gesetze ändern muss. Ironischer Weise ist die Stabilität komplexer Gesellschaften nicht von der harten Hand einer Zentralmacht abhängig, sondern von einem Konsens als Folge ständiger Verhandlungen, was wiederum voraussetzt, dass sich zivilgesellschaftliche Gruppen organisieren dürfen.

Diese Transformation wird also auch in China irgendwann notwendig.

Genau. Aber eins muss klar sein: Es besteht ein Unterschied zwischen der ersten Generation ziviler und politischer Menschenrechte und der zweiten Generation sozialer, kultureller und ökonomischer Menschenrechten. Chinas Führung erkennt zunehmend die Bedeutung von Wohlfahrtsgesetzgebung als Mittel, sich zu legitimieren. Aber sie ist nicht bereit, bei Forderungen nach Menschenrechten ähnlich zuzugeben.

Sagen Sie damit, die internationale Gemeinschaft solle für eine Übergangszeit die Menschenrechtslage in China vergessen?

Nein, natürlich nicht. Wir sollten kontinuierlich mit politischen Entscheidungsträgern und anderen in China im Dialog bleiben. Aber die Menschenrechte oder Tibet dürfen nicht die einzigen Themen sind, die die Beziehungen zu China bestimmen. In diesem Land leben mehr als eine Milliarde Menschen, es hat auf vielen Gebieten handfeste Erfolge vorzuweisen und spielt eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft. Die internationale Politik muss China einbeziehen – und auf allmählichen Wandel und Fortschritt hoffen. Und dieser Hoffnung fehlen keineswegs die empirischen Grundlagen. Es hat sich bereits sehr viel zum Besseren verändert.

Was sind die dringlichsten Probleme, vor denen Chinas Gesellschaft heute steht?

Gesellschaftliche Transformation führt zu großem Druck und Spannungen – vor allem wegen der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Und die Besorgnis darüber in China wächst. Eine weitere zentrale Herausforderung ist die Korruption. Die Ungleichheit der chinesischen Provinzen und ihr ganz unterschiedlicher Entwicklungsstand haben zu regional sehr verschiedenen Korruptionsmustern geführt. Besonders stark ist das Problem in den wirtschaftlich starken Provinzen wie Zhejiang, Fujian, Jiangsu und Guangdong sowie in Beijing und Shanghai. Die Methoden sind mittlerweile sehr ausgefeilt. Illegale Gelder lassen sich auf verschiedene Weise verbergen. Und der Austausch von Geld und Gegenleistung muss nicht sofort erfolgen.


Fragen von Hans Dembowski

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