Kritische Nothilfe

Helfen allein hilft nicht

Der Bedarf an humanitärer Hilfe übersteigt längst die vorhandenen finanziellen Mittel. Der Ausweg ist nicht noch mehr und vermeintlich effektivere Hilfe, sondern die konsequente Verwirklichung der Menschenrechte und damit die Überwindung der Hilfe selbst.
Medico-Projektpartner schieben eine Hilfslieferung in Nepal an, um abgelegene Dörfer zu erreichen. medico Medico-Projektpartner schieben eine Hilfslieferung in Nepal an, um abgelegene Dörfer zu erreichen.

Schnelle Hilfe in der Not zu leisten, empfinden viele als ein Gebot von Menschlichkeit. Und Hilfe ist bitter nötig. Denken wir nur an die drohende Hungersnot in Ostafrika oder die verfolgten Rohingya, die im vergangenen Jahr mit nicht mehr als dem, was sie am Körper trugen, nach Bangladesch fliehen mussten.

Neben dem Gebot der Menschlichkeit ist auch die Rechtslage eindeutig: Die 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedete „Internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ definiert, dass alle Menschen ein Recht auf soziale Sicherung, ein Leben frei von Hunger und auf den höchsten erreichbaren Gesundheitszustand haben. Dies gilt ebenso vor wie während und nach einer Katastrophe. Vom Anspruch auf Menschenrechte gibt es keine Pause.

Doch die Kluft zwischen dem weltweiten Bedarf an Hilfe und den dafür vorhandenen Ressourcen wächst unaufhörlich. UN OCHA, das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, setzt den Bedarf an humanitärer Hilfe für 2018 auf vorläufig 25 Milliarden US-Dollar fest (siehe hierzu Interview mit Mark Lowcock). Gleichzeitig sind in diesem Jahr nochmals fünf Prozent mehr Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen als 2017. Bis Ende 2017 kamen übrigens von den damals geforderten 22,2 Milliarden US-Dollar nur ungefähr 13 Milliarden US-Dollar zusammen.

Die Erkenntnis, dass das humanitäre System an seine Grenzen stößt, hat auch die Frage der Effizienz neu aufgeworfen. Wenn die Mittel nicht ausreichen, wie können sie dann so effizient eingesetzt werden, um möglichst viele Menschen zu erreichen? Die Frage ist berechtigt, doch liegt ihr ein technischer Ansatz zugrunde, der behauptet, Hilfe und Kooperation seien messbar. Doch Mut, Kreativität und Solidarität sind schwer in Zahlen und Budgetlinien zu fassen.


Humanitäre Hilfe als Geschäft

Zudem ist die humanitäre Hilfe mit dem Anspruch auf Effizienz längst zu einem Markt geworden. So werden zum Beispiel Banken und Mobilfunkanbieter zu gefragten Partnern, da sie über ihre Infrastruktur Dienstleistungen rund um Cash Transfers anbieten. Die Generaldirektion Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der Europäischen Kommission (ECHO) ist offen für Kooperationen mit Privatunternehmen, solange dies im besten Interesse der Hilfsempfänger ist. Dieser Nebensatz klingt zunächst vernünftig, doch werden Unternehmen, die keiner normativen Zielsetzung unterliegen, immer nur so lange ihre Unterstützung anbieten, wie sie Profite erzielen können. Eine Stärkung lokaler Akteure ist nicht einkalkuliert.

Das marktliberale Mantra von Eigenverantwortung und Effizienz findet über das Konzept der Resilienz massiv Einzug in die humanitäre Hilfe. Durch Resilienz sollen Individuen, aber auch Gruppen widerstandsfähiger gegenüber Katastrophen werden und Schocks schneller überwinden. Es spricht natürlich nichts dagegen, Vorkehrungen für eine möglicherweise eintretende Krise zu treffen, doch wird die Verantwortung für das eigene Wohlergehen durch diesen Ansatz tendenziell allein auf die Betroffenen geschoben, und Ursachen werden nicht angegangen. Sind Menschen erst mal fit gemacht, auch die nächste Katastrophe durchzustehen, kann die Frage nach grundsätzlichem Wandel vernachlässigt werden.

Dem stetig steigenden Bedarf an Hilfe kann damit nicht begegnet werden. Stattdessen müssen die Akteure die Ursachen für Verelendung angehen. Für medico international bedeutet dies, dass Helfen Teil eines politischen Handelns ist, mit dem Ziel, Unmündigkeit und Not langfristig zu überwinden. Dazu gehört es, genau die sozialen, politischen und kulturellen Umstände zu analysieren, in denen Hilfe nötig wird. Hilfe muss daher die Ursachen ihrer eigenen Notwendigkeit in den Blick nehmen und ebendiese bekämpfen. Dieser Grundgedanke, der für viele in der Entwicklungszusammenarbeit noch immer gilt und zu verteidigen ist, muss auch in der Nothilfe gelten.

Die Akteure müssen darauf achten, welche Wirkung Hilfe erzielt – gerade wenn, wie nach dem Erdbeben 2010 in Haiti, eine massive finanzielle und personelle Intervention folgt. Ein erster Schritt ist das Do-no-harm-Prinzip, also jeweils zu prüfen, ob Menschen durch die geleistete Nothilfe zusätzlich in Gefahr gebracht werden. Umfassender gedacht gilt es, Hilfe so zu gestalten, dass sie nicht dazu beiträgt, Machtbeziehungen und Abhängigkeiten wieder herzustellen oder zu festigen, die Hilfe erst nötig machten.

Wenn Hilfe nur kurzfristig die Fehler repariert, die durch gesellschaftliche Verhältnisse systematisch auftreten, schafft sie sich nur selbst eine Legitimation und praktischerweise zugleich ein neues Betätigungsfeld in der Zukunft: Nothilfe um der Nothilfe willen.

Die Arbeit von medico international und der Projektpartner hat jedoch den Anspruch, Hilfe gleichzeitig zu verteidigen, zu kritisieren und zu überwinden. Diesen Ansatz fasst medico mit dem Begriff der „Kritischen Nothilfe“ zusammen. Dem liegt zugrunde, dass sowohl die lokalen Partner als auch medico sich politisch und gesellschaftlich verorten und Stellung beziehen. Ebenso grundlegend ist der Bezug auf die Menschenrechte. Die Beziehung zwischen denen, die Hilfe leisten, und den Hilfeempfängern wird ständig überprüft. Dies gilt ebenso für medicos Beziehung zu den Partnerorganisationen wie auch deren direkte Beziehung zu den Menschen, die Hilfe benötigen.


Lokale Partner stärken

Dieser Ansatz, der den Eigensinn der lokalen Partner nicht nur akzeptiert, sondern fördert und trotz real vorhandener (finanzieller) Abhängigkeiten um eine Kooperation auf Augenhöhe bemüht ist, bildet den Kern einer kritischen Nothilfe. Partneransatz bedeutet nicht Aufgabenteilung in Finanzierung und Implementierung, sondern vertrauensvoller Dialog, Diskussion, gegenseitiges Lernen und langfristige Kooperationen. Medico unterstützt eigenständige lokale Akteure, um diese zu stärken. Dies ist umso wichtiger, da die mediale Aufmerksamkeit nach einer Katastrophe schnell wieder abnimmt. Internationale Organisationen ziehen sich daraufhin aus der Region zurück, personell und finanziell. Lokale Organisationen aber bleiben vor Ort. Dazu gehören Gemeinden, Gewerkschaften, Menschenrechtsaktivisten, Gesundheitsinitiativen und Selbsthilfegruppen. Wir sehen den Partneransatz daher als Mittel zum Zweck, eine solidarische Praxis zu entwickeln und gemeinsam zu gesellschaftlichem Wandel beizutragen.

Doch Ursachen lassen sich nicht immer bekämpfen. Gegen das Auftreten eines Erdbebens hilft keine Projektmaßnahme. Allerdings muss nicht aus jedem Erdbeben eine Katastrophe werden. Die Wohnverhältnisse, die Gesundheitsversorgung, soziale und ökonomische Absicherungen sind Faktoren, die beeinflussen, ob und für wen aus einem Naturereignis eine Katastrophe wird. Eine kritische Nothilfe versucht im Verbund mit lokalen Partnern nicht nur Hilfe zu leisten, sondern auch dafür zu streiten, dass sich die Lebensgrundlagen der Menschen dauerhaft verbessern.

Medico drängt mit dem Konzept darüber hinaus auf eine rechtliche Absicherung der Hilfe. Wo Hilfe notwendig wird, darf sie nicht am Maß der Barmherzigkeit oder des Mitgefühls gemessen werden, sondern muss eine verfasste gesellschaftliche Übereinkunft sein. Schlussendlich ist damit das Ende, die Überwindung der Hilfe, angedeutet – beyond aid.


Hendrik Slusarenka ist Projektkoordinator in der Nothilfe bei medico international.
slusarenka@medico.de

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