Vereinte Nationen

Verletzlichkeit reduzieren, Resilienz stärken

Die UN stellen humanitäre Hilfe in den Kontext langfristiger Entwicklung. Krisenfolgen sollten so nah wie möglich an ihrem Ursprungsort angegangen werden. Mark Lowcock, der Nothilfekoordinator der UN und Chef des UN Amts für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affaires – UN OCHA), erläutert im E+Z/D+C-Interview seine Position.
Titelseite des Global Humanitarian Overview 2018. UN OCHA Titelseite des Global Humanitarian Overview 2018.

Wie verhält sich Nothilfe zu langfristiger Entwicklung?
Nothilfe soll in Krisensituationen Menschenleben retten – etwa in Syrien, dem Jemen oder der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo). Sie kann die Probleme dort aber nicht lösen, denn das erfordert politische Prozesse, Frieden und Stabilität, also Entwicklung. Früher rangen um die 100 Länder mit existenziellen Krisen, aber viele haben sich weiter entwickelt und sind heute weit weniger verwundbar. Chronische Krisen plagen aber immer noch etwa 30 Länder. Je besser sie sich entwickeln, desto besser kommen sie mit kurzfristigen Schocks zurecht, ohne große internationale Unterstützung zu brauchen. Daraus folgt, dass humanitäre Organisationen eine Pflicht haben, nicht nur Menschen zu retten, sondern das auf eine Weise zu tun, die langfristige Entwicklung fördert.

Bitte nennen Sie ein Beispiel.
Nehmen wir Somalia. Wir wissen, dass das Dürrerisiko dort hoch ist und der Klimawandel es weiter steigert. Statt auf jede Dürre einzeln zu reagieren, wäre es besser, Notversorgungssysteme zu haben, die je nach Bedarf hoch- oder runtergefahren werden können. In einem Land wie Äthiopien ist es klüger, das Wasserressourcen-Management zu verbessern, als in Krisenzeiten Tank­laster loszuschicken.

Es geht also um eine Art positives Feedback? Entwicklung schafft bessere Institutionen und stärkere Resilienz, was die Wahrscheinlichkeit von Gewaltkonflikten reduziert, was wiederum weitere Entwicklung möglich macht?
Je erfolgreicher Entwicklung gelingt, desto weniger Probleme bekomme wir. Wir wollen die Zahl der Länder, die humanitäre Hilfe brauchen, senken. Das ist ein Kernthema der UN-Reform, die Generalsekretär An­tónio Guterres vorantreibt. Wir tun unser Bestes, um das auf dem Feld der Nothilfe zu unterstützen. Je stärker Regierungen ihre Politik darauf ausrichten, örtliche Gemeinschaften mit Vorbeugung stark und weniger verletzlich zu machen, desto weniger Hilfe werden ihre Länder brauchen.

Gibt es Zielkonflikte zwischen Leben retten und langfristiger Entwicklung?
Es muss keine geben, aber es kann welche geben. Die Konzepte humanitärer Organisationen sollten immer Win-win-Ergebnisse anstreben und Spannungen vermeiden. Wichtig ist beispielsweise, örtliche Institu­tionen und Gemeinschaften nicht zu übergehen, denn sie sind dauerhaft wichtig.

Unmittelbar nach einer Katastrophe ist die Lage meist chaotisch. Behörden fallen aus, die Zivilgesellschaft ist schwach, und internationale Nothilfeorganisationen kommen gerade erst an. Wer muss für Koordination sorgen?
Ich denke, alle Seiten müssen Verantwortung übernehmen und in Gesamtzusammenhängen denken. Was die internationale Gemeinschaft angeht, sehe ich für mein Amt eine wichtige Führungsrolle beim Bemühen um Koordination.

Humanitäre Hilfe soll unparteiisch sein, aber Organisationen wird zunehmend vorgeworfen, sie seien das nicht. Was ist der beste Umgang damit?
Ich weiß von keinen Nothelfern, die sich in Katastrophensituationen auf eine Seite geschlagen hätten. Der Auftrag lautet, Menschen in Not zu helfen und dabei unparteiisch, neutral und unabhängig zu bleiben. Die Grundsätze unserer Arbeit sind klar und wurden von den UN vor 25 und mehr Jahren festgelegt. Dank dieser Grundsätze bekommen wir überhaupt Zugang zu Orten, wo wir gebraucht werden. Wir müssen aber bedenken, dass Nothilfe in Katastrophengebieten ökonomisch große Bedeutung hat, und im Auge behalten, wer in der Volkswirtschaft von unserer Arbeit profitiert. Speditionsfirmen können beispielsweise mit dem Transport von Hilfsgütern viel Geld verdienen, und das kann Unmut wecken. Es hat gelegentlich Terroranschläge auf humanitäre Helfer gegeben, und das zeigt, dass es wichtig ist, mit allen Konfliktparteien zu kommunizieren. Es ist sinnvoll, sich streng an die Grundsätze zu halten und diese immer wieder zu erklären. So maximieren wir langfristig unsere Akzeptanz.

Manche Katastrophen bekommen mehr Aufmerksamkeit als andere. Syrien macht beispielsweise mehr Schlagzeilen als die DR Kongo. Gibt es vergessene humanitäre Krisen?
Die internationale Medienberichterstattung ist in der Tat selektiv. Syrien wird aufmerksam beobachtet, und eine Zeitlang galt das auch für die Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch. Die DR Kongo bekommt weniger Aufmerksamkeit, aber den meisten ist trotzdem klar, dass es dort große Probleme gibt. Bei einer Konferenz in Genf konnten wir kürzlich 530 Millionen Dollar für unser humanitäres Landesprogramm dort mobilisieren. Andere Länder bekommen noch weniger Aufmerksamkeit – die Zentralafrikanische Republik zum Beispiel. Die Not dort ist gewaltig, und der Bevölkerungsanteil der Betroffenen ist sehr groß. Zu den Aufgaben von UN OCHA gehört, solche Herausforderungen zu analysieren und international zu vermitteln, was los ist. Wir veröffentlichen jedes Jahr einen Überblick, der die bekannten und die weniger bekannten Krisen umfasst. Der aktuelle Bericht ist im Dezember erschienen, und ihm zufolge werden in diesem Jahr rund 130 Millionen Menschen in 30 Ländern Nothilfe brauchen. UN OCHA will davon 90 Millionen erreichen und dafür 25 Milliarden Dollar mobilisieren. Davon wurde uns bisher ein knappes Drittel zugesagt. Darüber hinaus müssen wir uns auf eine andere Art von plötzlichen Desastern einstellen. Es geht beispielsweise um die Hurrikane, die im vorigen Jahr Karibikinseln verwüstet haben. Im Februar verursachte nun im pazifischen Inselstaat Tonga der schlimmste Zyklon seit 60 Jahren großes Leid.

Hängt es von geostrategischen Aspekten ab, ob eine Krise wahrgenommen oder vergessen wird?
In gewissem Maß ist das sicherlich so. Zum Beispiel hat die Weltpresse kürzlich recht heftig auf den mutmaßlichen Einsatz von Giftgas durch die syrische Regierung reagiert. Es gibt aber noch andere Faktoren. Besonders wichtig ist, ob Menschen fliehen, denn das betrifft schnell auch die Innenpolitik anderswo, in Europa etwa.

Eine große Sorge der Regierungen reicher Länder ist, dass Flüchtlinge an ihren Grenzen ankommen könnten. Wirkt sich das auf humanitäre Hilfe aus?
Lassen Sie mich zuerst sagen, dass manche Regierungen ausgesprochen großzügig Flüchtlinge aufgenommen haben. Richtig ist aber auch, dass wir in den vergangenen Jahren gelernt haben, dass es besser, billiger und nachhaltiger ist, Krisenwirkungen möglichst nah an ihrem Ursprungsort anzugehen. Wir wollen nicht, dass die Dinge außer Kontrolle geraten und dann Wirkungen anderswo verstärkt spürbar werden. Tatsächlich stellen uns Regierungen mehr Geld als früher zur Verfügung. 2017 sagte die Staatengemeinschaft uns 14 Milliarden Dollar zu. Zum Vergleich: 2005 waren es nur 4 Milliarden Dollar. Natürlich spielt dafür der neue Konflikt im Nahen Osten eine Rolle, aber der Wunsch, Krisen nah an der Wurzel anzugehen, ist auch relevant.

Das Ansehen humanitärer Organisationen hat im Februar unter dem Sexskandal von Oxfam stark gelitten. Humanitäre Helfer hatten in Haiti illegalerweise Prostituierte in Anspruch genommen und sogar Minderjährige missbraucht. Hat das Folgen oder wird es vergessen werden?
In Großorganisationen ist sexueller Missbrauch ein weitverbreitetes Problem. Wie Hollywood, die katholische Kirche, verschiedene nationale Parlamente oder die BBC betrifft es auch Hilfsorganisationen. Auch in den UN ist das ein großes Thema. Wir müssen unser Versprechen der Null-Toleranz erfüllen. Es darf keine Straflosigkeit geben, und alle Mitarbeiter müssen unsere Werte kennen. Es muss einen guten Beschwerdeweg geben, auf Beschwerden müssen Ermittlungen folgen, und Übergriffe müssen angemessen bestraft werden. Andere Hilfsorganisationen müssen ebenso handeln. Zum Oxfam-Skandal trug ja bei, dass Täter, die in einer Organisation aufgefallen waren, trotz ihrer Übergriffe leicht neue Jobs bei anderen Organisationen finden konnten.


Mark Lowcock ist UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator. Er leitet das UN-Amt für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – UN OCHA) in New York.
https://www.unocha.org/


Link
Global Humanitarian Overview 2018:
https://www.unocha.org/sites/unocha/files/GHO2018.PDF

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