Editorial

Gelegenheit zum Neu-Anfang

In Artikel 2 des Grundgesetzes steht das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Unabhängigkeitserklärung der USA betonte den „Pursuit of Happiness“. Zum westlichen Weltbild gehört die Freiheit, seine Lebensweise selbst zu wählen. Offensichtlich gehört die Wahl des Wohnorts dazu. Reiche Nationen gewähren Ausländern aber keine ungehinderte Mobilität.
Refugees from Syria in Jordan Mazataud / Wostok Press Refugees from Syria in Jordan

Weil Europa schnell altert, braucht der Kontinent Einwanderer, um seine Prosperität zu erhalten. Deutsche Politiker wissen das, aber sie handeln zu zögerlich. Es ist weder gewährleistet, dass die Wirtschaft in den nächsten Jahren genug Fachkräfte hat, noch dass auf längere Sicht nicht auch Personal für einfachere Aufgaben ausgeht. Erfreulicherweise wächst die Zahl der Politiker, die die Vorteile der Migration betonen. In der Vergangenheit handelte es sich um eine recht überschaubare Gruppe.

Dennoch bleibt die Vorstellung, dass mehr Immigranten in die EU kommen und hier arbeiten, unbeliebt. In vielen Mitgliedsländern herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Zugleich übernehmen aber viele illegale Einwanderer Aufgaben, für die sich EU-Bürger zu schade sind. Entsprechend putzen beispielsweise kroatische Haushaltshilfen Wohnungen in Berlin und Frankfurt. Die deutsche Öffentlichkeit schaut einfach weg.

Weltweit gibt es indessen noch größere Sorgen als verzerrte und aus der Balance geratene Arbeitsmärkte. Millionen Menschen sind auf der Flucht – vor Gewalt, vor Naturkatastrophen, vor materieller Not. Es ist eine Schande, dass die reichen Nationen kaum bereit sind, etwas zur Linderung ihres Leids zu tun. Menschenrechtsorganisationen sind darüber alarmiert, wie die EU sich abschirmt. Wir lesen viel zu oft über Menschen, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft bei ihrem Versuch, mit ungeeigneten Booten europäische Ufer zu erreichen, ertrinken. Oft berichten Massenmedien über solche Ereignisse aber gar nicht mehr. Zivilgesellschaftliche Organisa­tionen kritisieren, wie die EU Flüchtlinge behandelt, und bemängeln haarspalterische Versuche, politisch motivierte Auswanderer von ökonomisch motivierten zu unterscheiden.

Die entwicklungspolitische Dimension ist auch wichtig, wird aber kaum diskutiert. Länder, die deutlich ärmer sind als selbst die wirtschaftlich schwächsten EU-Mitglieder, müssen mit Massen von Flüchtlingen zurechtkommen. Zwei aktuelle Beispiele sind Niger und Jordanien, wohin sich viele Menschen aus Mali beziehungsweise Syrien retten. In vielen Entwicklungsländern ist das Schicksal intern vertriebener Menschen außerdem ähnlich hart.

Die reichen Weltregionen ignorieren, dass Flüchtlinge und Binnenvertrie­bene eine Perspektive brauchen. Frustrierte junge Männer, die in Lagern he­rumhängen, radikalen Ideologien ausgesetzt sind und sich rächen wollen, sind brandgefährlich. So sind die Taliban, palästinensische Extremisten und Hutu-Milizen in der Großen-Seen-Region Afrikas stark geworden. Klügere Flüchtlingspolitik hätte Probleme verhindert, die der Menschheit einschließlich der Industrieländer dauerhaft zu schaffen machen.

Wenn eine Krisenregion eine Chance zum Neustart hat, kommt es aber gerade auf Rückkehrer aus reichen Ländern an, die im Asyl die Vorteile der Demokratie und individueller Freiheitsrechte kennen und schätzen gelernt haben. Sie tragen zum Erfolg bei. Reiche Nationen haben ein Interesse daran, Flüchtlinge nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen – engagieren sich aber nicht entsprechend.

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