Urbanisierung

Überfüllte Räume

Besonders in städtischen Gebieten ist Grund und Boden teuer. Das zwingt viele arme Menschen, in dicht besiedelten, informellen Siedlungen ohne Mietsicherheit zu leben. Viele indische Slumbewohner müssen die Räumung ihrer Viertel fürchten.
Von Roli Mahajan
Viele Slums sind auf dem Grund der Bahn entstanden, so wie dieser in Kalkutta. dem Viele Slums sind auf dem Grund der Bahn entstanden, so wie dieser in Kalkutta.

Janki Prasad (40) lebt mit ihren drei Kindern in einem winzigen Raum mit Blechdach und einer kaputten Holztür als Eingang. In der Hütte ist kaum Platz für zwei Menschen. Eine Backsteinmauer trennt sie von der Straße, wo eine offene Abwasserrinne neben dem Fußweg verläuft. In der Regenzeit ist hier alles überflutet.

Jankis Haus ist eines von vielen in Seelampur, einem Slum in Delhi. Sie sagt, hier sei das Leben besser als in ihrem 600 Kilometer entfernten Heimatdorf. Sie ist froh, dass sie ihren Mann jeden Tag sieht, der in der Hauptstadtregion arbeitet, während sie etwas Geld als Köchin verdient. Die Kinder gehen zur Schule. Ihre Wohnsituation ist schwierig, doch Janki glaubt, dass sie hier bessere Chancen haben als im Dorf.

Tatsächlich ist sie eine der begünstigteren Slumbewohner, weil sie eine „Toilette“ mit einem Nachbarn teilt – ein behelfsmäßiges Zelt mit Holzbohlen als Säulen und alten Bettlaken als Wänden. Die Toilette ist nicht an das Abwassersystem angeschlossen und die Exkremente gehen direkt in einen offenen Kanal. Die meisten Menschen in Seelampur nutzen die Gemeinschaftstoiletten am Rande des Slums. Sie werden nicht regelmäßig gereinigt und von Männern wie Frauen genutzt. Die Frauen leiden unter der fehlenden Intimsphäre.

In Indien leben mehr als 65 Millionen Menschen in Slums, in über 100 000 informellen Siedlungen, von denen mehr als ein Drittel nicht offiziell anerkannt ist. Immer mehr Menschen kommen in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in die Städte. Einem UN-Bericht nach ist die städtische Bevölkerung in Indien in den letzten zwanzig Jahren von 160 Millionen auf 377 Millionen gewachsen. Bis zum Jahr 2031 sollen rund 600 Millionen Menschen in den 8000 großen und mittelgroßen Städten Indiens leben.
 
Nur die Hälfte der Städte und Gemeinden hat eigene Kommunalbehörden. Bei der Volkszählung 2011 wurden nur Slums dieser Städte gezählt, die anderen Slums werden von den Behörden oft einfach ignoriert.

Es gibt drei offizielle Klassifikationen für Slums: „gemeldet“, „anerkannt“ und „gekennzeichnet“. „Gemeldet“ und „anerkannt“ bedeutet, dass offizielle Autoritäten das Gebiet als Slum akzeptieren. Die dritte Kategorie besagt lediglich, dass wenigstens 300 Personen in mindestens 60 Mietsgebäuden leben. Ein „gekennzeichneter“ Slum hat keinen rechtlichen Status und bezieht keine kommunalen Dienstleistungen. Mehr als eine Million der etwa 1,7 Millionen Slumbewohner Neu-Delhis leben so. Auch andere indische Megastädte wie Mumbai, Kalkutta und Bangalore haben enorme Slumpopulationen.

Planlose Entwicklung

Die indische Urbanisierung ist weitgehend ungeplant und ungeordnet verlaufen. Unzählige Menschen leben in solchen marginalisierten Siedlungen. Stadtplaner und Politiker in Delhi träumen von einer „Weltklasse-Stadt“ ohne Slums. Sie meinen, durch einen „effizienten Markt für Bauland“ könnten bisher „unterbeanspruchte“ – weil von Slumbewohnern besetzte – öffentliche Flächen in kommerziell verwertbare Immobilien umgewandelt werden. Stadtentwicklung heißt für sie: die meisten Elendsviertel räumen und einige aufwerten.

Die Delhi Development Authority (DDA) äußerte solche Pläne bereits 1997. 2010 wurden vor den Commonwealth Games massenweise arme Stadtbewohner vertrieben und deren Häuser abgerissen. Für die DDA sind Slums inakzeptabel. In den letzten Jahrzehnten teilen auch die Gerichte in Indien zunehmend diese Ansicht. In einem Gesetz von 2017 verhängte der Oberste Gerichtshof von Bombay Geldstrafen für Slumbewohner, die sich auf Arealen der Bahn niedergelassen haben. Die Familien hatten dort seit Jahrzehnten gelebt, aber die Richter befanden, es „sei strafbar, sich unbefugt auf Eisenbahngelände niederzulassen“.

In Indien haben sich Slums schon immer bevorzugt auf öffentlichem Land, einschließlich Bahngrundstücken gebildet. Meist tolerierten die Regierungsbehörden sie – schließlich sind auch Slumbewohner potenzielle Wähler. Ihre Angelegenheiten durften die Bewohner der informellen Siedlungen jedoch nie selbst und in der Weise, wie es sinnvoll finden, regeln.

Informelle Siedlungen werden in Mafia-ähnlichen Netzwerken von Slumlords kontrolliert, die meist Kontakte zu korrupten Politikern haben. Die Armen zahlen saftige Mieten für ihre miserablen Hütten. Schon für die geringen Basis-Dienstleistungen werden sie zur Kasse gebeten. Slums sind Teil der informellen Wirtschaft, in der Rechte von denen gemacht werden, die die Macht ausüben.

Der US-Wissenschaftler Asher Ghertner stellte fest, dass die Öffentlichkeit Slums zunehmend ablehnt. Viele Gerichtsverfahren, die zur Räumung von Slums in Delhi führten, begannen als öffentlich-rechtliche Verfahren – PIL (public interest litigation). Ein PIL ist ein von einem Gericht anerkannter Rechtsfall, den Bürger nicht in ihrem persönlichen Interesse sondern im Interesse der Gemeinschaft einreichen. Wohlhabende Bürger reichen solche Klagen gegen Slums ein, weil sie sie als öffentliche Belästigung empfinden.

Seit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Bombay von 1985 können Regierungsstellen Slumbewohner vertreiben, trotz des konstitutionellen Rechts des Menschen auf Leben und Lebensunterhalt. Die staatlichen Stellen müssen zwar nach geltendem Gesetz handeln und die Situation der Slumbewohner berücksichtigen. Das geschieht aber praktisch kaum. Vertriebene haben auch kein Recht auf neuen Wohnraum.

Bisweilen ist auch gut gemeinte Politik schädlich. Der 2007 veröffentlichte Delhi-Masterplan 2021 führte eine „Vor-Ort-Rehabilitation“ für die Sanierung von Slums ein. Der erste Slum, der so verbessert werden sollte, war die Kathputli-Kolonie, die Salman Rushdie in seinem berühmten Roman „Mitternachtskinder“ verewigt hat.

Weil Kathpuli als Slumbereich ausgewiesen war, hatten die Menschen das Recht, dort zu leben. Trotzdem wurden die Bewohner 2014 vertrieben, dagegen half selbst die Medien- Aufmerksamkeit nicht. Inzwischen hat die Umverteilung von etwa 1000 neuen Wohnungen an einige der Vertriebenen begonnen. Da diese aber nicht auf dem früheren Slum-Areal liegen, fühlen sich die ehemaligen Bewohner betrogen. Sie schrieben an verschiedene Behörden, um sich zu beschweren.

Vor-Ort-Rehabilitation ist generell möglich – allerdings müssen dabei die Bedürfnisse der Bewohner berücksichtigt werden (siehe Diana Mitlin in E+Z/D+C, e-Paper 2016/10, S. 24 und E+Z/D+C-Printausgabe 2016/11-12, S.13). Diese decken sich aber selten mit den Vorstellungen der Stadtplaner (siehe Rüdiger Korff in E+Z/D+C e-Paper 2016/10, S. 28 und E+Z/D+C Printausgabe 2016/11-12, S. 19). Vor-Ort-Rehabilitation nutzt vielleicht den Bewohnern, sie passt aber nicht zu den offiziellen Vorstellungen von „Weltklasse“.

Neue Richtlinien

Indiens Zentralregierung weiß um diese Herausforderungen. Ministerpräsident Narendra Modi sagte: „Ich träume davon, dass bis im Jahr 2022 jeder Inder sein eigenes Zuhause hat und Zugang zu Strom, Wasser und nahe gelegenen Krankenhäusern. Niemand soll ohne Obdach sein.“

Die 2017 vorgeschlagene National Urban Rental Housing Policy könnte wegweisend sein. Den Slums soll demnach ihre Existenz auf städtischem Grund garantiert werden – sofern sie zu Mietwohnungen umgewandelt werden. Die Kommunen übernähmen dann die Rolle des Vermieters und wären an soziale Vorgaben gebunden. Laut Ministerium für Wohnungsbau und städtische Armutsbekämpfung hätte das zwei Vorteile: So würden die Slumbewohner vor der ständigen Bedrohung geschützt, geräumt zu werden und es wäre darüber hinaus eine passable Einnahmequelle für die städtischen Behörden. Wohnungsbauminister M. Venkaiah Naidu sagte im April 2017, diese Politik „ziele darauf ab, die zunehmenden Wohnbedürfnisse von Migranten, Studenten, alleinstehenden, arbeitenden Frauen und anderen zu erfüllen.“

Der Ansatz ist sinnvoll. Trotzdem bezweifeln Beobachter, dass er funktioniert. Nicht zuletzt wegen der Erfahrung mit der Kathpuli-Kolonie: Der DDA-Ansatz der Vor-Ort-Rehabilitation geht zwar mit den Plänen der Zentralregierung einher – aber er ist gescheitert.

Mukta Naik, Leiterin einer Forschungsgruppe am Zentrum für Politikforschung, einem unabhängigen Thinktank, mahnt, die neue Politik beinhalte nicht die unbedingte Garantie, dass nicht mehr geräumt werden darf. Dieses Versäumnis belegt ihrer Ansicht nach „das Versagen, informelle Siedlungen als das zu erkennen und zu akzeptieren, was sie sind: erschwinglicher Wohnraum, den eigentlich der Staat bereitstellen müsste“. Der Staat betrachte Slum-Bewohner immer noch als Eindringlinge, statt als Menschen, die ein Dach über dem Kopf brauchen, so ihr Fazit.

In indischen Städten ist ein Bau-Boom ausgebrochen, doch davon profitieren nur die Mittelklasse und die Wohlhabenden. Die Nachfrage nach Bauland ist immens. Manish Kumar, Manager einer privatwirtschaftlichen Immobilienberatung, sagt: „Häuser sind für die meisten unerschwinglich geworden.“ Er sieht einen Mangel an bezahlbaren Wohnungen, was wiederum aus einem Mangel an erschwinglichem Land und Krediten resultiert.

Roli Mahajan ist freie Journalistin in Delhi.
roli.mahajan@gmail.com
 

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