Sexuelle Gewalt

Gerechtigkeit für die Opfer

In Nepal wurde die im Bürgerkrieg verübte sexuelle Gewalt nur unzureichend aufgearbeitet. Und auch in der heutigen Gesellschaft werden Täter nicht adäquat bestraft und Opfer diskriminiert. Der Staat muss dringend seine Gesetze überarbeiten. Nur so können Inklusion und Gleichberechtigung erreicht werden, die in der Verfassung von 2015 verankert sind.
Frauen fordern ihre Rechte ein: Demonstration am 8. Mai 2020, dem Internationalen Frauentag, in Kathmandu. Sunil Pradhan/picture-alliance/ZUMA Press Frauen fordern ihre Rechte ein: Demonstration am 8. Mai 2020, dem Internationalen Frauentag, in Kathmandu.

Im Mai 2019 hat der UN-Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee – HRC) Nepal aufgefordert, seine Gesetze bezüglich Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt den internationalen Standards anzupassen. Außerdem soll den Opfern der Zugang zur Justiz erleichtert werden. Zugleich forderte das HRC Nepal auf, den konkreten Fall von Fulmati Nyaya (Pseudonym) zu untersuchen, einer indigenen Frau, die angibt, im Alter von 14 Jahren Vergewaltigung, Folter und Zwangsarbeit erlitten zu haben. Die Vorfälle geschahen in der Zeit des gewaltsamen Konflikts zwischen der Regierung und der maoistischen Kommunistischen Partei Nepals, der von 1996 bis 2006 dauerte.

2017 hatte das HRC bereits ähnliche Empfehlungen ausgesprochen. Damals ging es um den Fall von Purna Maya (Pseudonym), die den Anschuldigungen zufolge 2004 von vier Soldaten in einer Kaserne vergewaltigt worden war. Acht Jahre später erstattete sie mit Hilfe zweier Menschenrechtsorganisationen Anzeige. Purna Maya litt nach dem Vorfall nicht nur unter massiven gesundheitlichen Problemen, sondern musste zusammen mit ihrer Tochter auch ihr Haus verlassen, da ihr Ehemann sie verstieß.

Mehr als 13 000 Menschen verloren im Bürgerkrieg ihr Leben, rund 1000 Menschen verschwanden. Beide Konfliktparteien, die Regierungstruppen und die maoistischen Rebellen, vergewaltigten und missbrauchten Frauen und Mädchen. Erstere „bestraften“ so beispielsweise Frauen, die sie verdächtigten, Maoisten zu sein oder diese zu unterstützen. Letztere setzten sexuelle Gewalt in mehreren Fällen als Mittel der Kriegsführung ein. Die Opfer litten in der Folge unter anderem unter ungewollten Schwangerschaften, psychischen Problemen und Traumata, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Vertreibung.

2015 setzte die nepalesische Regierung zwei Kommissionen ein, um Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs zu untersuchen, Vorschläge zum Umgang mit den Tätern zu erarbeiten und so die Phase der Übergangsjustiz abzuschließen: die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission – TRC) und die Untersuchungskommission für Verschwundene (Commission of Investigation on Enforced Disappeared Persons – CIEDP). Bei ihnen gingen 63 000 Anzeigen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen ein, aber nur 300 betrafen sexuelle Gewalt und Übergriffe. Möglicherweise hatten die Opfer Angst, dass die Kommissionen die Fälle nicht vertraulich behandeln.


Kultur der Straflosigkeit

Dass sexuelle Übergriffe nicht angezeigt werden, gilt nicht nur für die Zeit des Bürgerkriegs. Es herrschen generell eine Kultur der Straflosigkeit und mangelnde Informationen über die rechtlichen Möglichkeiten für Opfer vor. Bis heute fehlt eine klare Null-Toleranz-Haltung gegenüber sexueller Gewalt in Nepal, und alarmierend viele Frauen müssen sie erleiden. 2016 gaben in einer Umfrage sieben Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren an, schon einmal sexuelle Gewalt erfahren zu haben. Vor Gericht gingen im Steuerjahr 2017/2018 1480 Anzeigen wegen Vergewaltigung und 727 wegen versuchter Vergewaltigung ein. Nur 387 beziehungsweise 118 Angeklagte wurden verurteilt.

Viele Opfer sexueller Gewalt behalten das Geschehene freiwillig für sich oder werden von ihrer Familie dazu gezwungen, um Scham, Diskriminierung und Stigmatisierung zu vermeiden. Opfern wird häufig die Schuld für die Tat gegeben; zudem müssen sie die Rache der Täter fürchten, besonders, wenn es sich um einflussreiche Persönlichkeiten handelt. Es gibt auch Berichte über Fälle, in denen die Opfer gezwungen wurden, ihre Vergewaltiger zu heiraten.

Manchmal werden Anzeigen auf Druck der Täter auch wieder zurückgezogen oder eine außergerichtliche Einigung erwirkt. Beispielsweise wurde eine junge Frau 2010 in einem Zuckerrohrfeld von zwei Männern vergewaltigt. Sie wurden gefasst, aber nicht bestraft. Stattdessen vertrieben Dorfbewohner die Frau unter dem Vorwurf, die jungen Männer „verdorben“ zu haben. Sie wandte sich an die Polizei und lokale Politiker und erhielt schließlich rund 400 Dollar Entschädigung. Die Hälfte behielten diejenigen ein, die in dem Fall vermittelt hatten – als „Spende“ für Entwicklungsmaßnahmen im Dorf.

Trotz solcher Fälle ist spürbar, dass das Bewusstsein für sexuelle Gewalt in Nepal steigt. Medien berichten immer häufiger darüber. Als 2018 die 13-jährige Nirmala Pant von einer Gruppe von Männern vergewaltigt und ermordet wurde, gab es soziale Unruhen, nachdem der Verdacht aufkam, dass einflussreiche Politiker die polizeilichen Untersuchungen behinderten. Sie mündeten in eine landesweite Mobilisierung der Öffentlichkeit.


Juristische Reformen

Nach wiederholten Aufforderungen durch UN-Organe hat Nepal seine Gesetzgebung überarbeitet. Das 2017 verabschiedete Strafgesetzbuch definiert Vergewaltigung als „Sexualverkehr mit einer Frau ohne ihr Einverständnis und mit einem Mädchen unter 18 Jahren mit ihrem Einverständnis“. Sexualverkehr schließt laut der Definition Geschlechtsverkehr, Oralverkehr und die Penetration mit Gegenständen ein, während vorher lediglich Geschlechtsverkehr dazu gehörte. Zudem wurde die Frist, in der Vergewaltigung zur Anzeige gebracht werden kann, von 35 Tagen auf ein Jahr verlängert. Auch die Strafen sind etwas härter geworden.

Ein großes Problem ist jedoch nach wie vor, dass die Strafe vom Alter des Opfers abhängt und nicht von der Schwere der Tat und dem Leid des Opfers. Wenn das Vergewaltigungsopfer unter zehn oder über 70 Jahre alt ist, gibt es lebenslang. Doch wenn das Opfer zwischen 18 und 69 Jahren alt ist, erwarten den Täter nur sieben bis zehn Jahre Haft. Auf Vergewaltigung in der Ehe stehen fünf Jahre Gefängnis.

Mit dem neuen Gesetz hat Nepal die rechtliche Lage verbessert. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat die Regierung aber in seiner Entscheidung vom vergangenen Jahr aufgefordert, die Anklagefrist noch erheblich weiter zu verlängern, und der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau empfahl Nepal 2018, alle Verjährungsfristen aufzuheben, da es Jahre dauern kann, bis ein Vergewaltigungsopfer in der Lage ist, sich einem Verfahren zu stellen – besonders, wenn es sich um Kinder oder andere Schutzbedürftige handelt. Außerdem lässt das Gesetz in Bezug auf das Strafmaß viel Spielraum für die Behörden und Richter, so dass die Gefahr besteht, dass Täter eine leichte Strafe im Vergleich zur Schwere ihres Vergehens erhalten.

In Bezug auf sexuelle Gewalt in Konflikten wertet die Wahrheits- und Versöhnungskommission Vergewaltigung als schwere Menschenrechtsverletzung, und die TRC darf Tätern in der Regel keine Amnestie gewähren. Die Gesetze, um sexuelle Gewalt in Konflikten zu verfolgen, sind jedoch ungenügend, weil diese nicht unter das Strafgesetzbuch fällt.

Sexueller Gewalt liegen strukturelle Probleme zugrunde, die mit der vorherrschenden Straflosigkeit zu tun haben und dauerhaften Frieden und Demokratisierung in Nepal ernsthaft bedrohen. Daher sollte es im Interesse der Regierung und aller politischen Parteien sein, sich klar gegen jede Tolerierung von sexueller Gewalt zu positionieren. Nepal steht noch bis mindestens Januar oder Februar 2021 unter besonderer internationaler Beobachtung. Dann wird es wieder eine Überprüfung der Menschenrechtslage durch den UN-Menschenrechtsrat geben (Universal Periodic Review – UPR). Die Regierung sollte die Zeit bis dahin für weitere rechtliche Reformen nutzen, um den Zugang zur Justiz für Opfer sexueller Gewalt sicherzustellen und die Definition von Vergewaltigung in Einklang mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu bringen.

Außerdem sollte Nepal die Empfehlungen von UN-Generalsekretär António Guterres zum Umgang mit sexueller Gewalt in Konflikten beherzigen. Er rief den UN-Sicherheitsrat im März 2019 dazu auf, Opfern einstweiligen Rechtsschutz und volle Entschädigung zu gewähren, einschließlich medizinischer und psychosozialer Betreuung, Hilfe zum Lebensunterhalt und angemessener Kompensation. Wichtig ist auch, dass Nepal zügig die Sicherheitsratsresolutionen 1325 aus dem Jahr 2000 und 1820 aus dem Jahr 2008 implementiert, in denen es um Frauen, Frieden und Sicherheit geht.


Rukamanee Maharjan ist Juradozentin an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu.
rukumaharjan@gmail.com

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