Medizinanthropologie

Medizinanthropologie: Globale Gesundheit und soziale Ungleichheiten

Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie eng Gesundheitsfragen mit globalen Zusammenhängen und sozialen Ungleichheiten verknüpft sind. Medizinanthropolog*innen untersuchen diese Verbindungen und ihre Auswirkungen auf die individuelle und gesellschaftliche Gesundheit in einer zunehmend globalisierten Welt.
Liberianisches Gesundheitspersonal im Jahr 2014. Während des damaligen Ebola-Ausbruchs waren Medizinanthro­polog*innen vor Ort. picture-alliance/dpa/Ahmed Jallanzo Liberianisches Gesundheitspersonal im Jahr 2014. Während des damaligen Ebola-Ausbruchs waren Medizinanthro­polog*innen vor Ort.

Die Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, wie stark gesundheitliche Herausforderungen sowohl in globale Zusammenhänge als auch in soziale Ungleichheiten eingebettet sind. Die Infektionskrankheit hat sich seit 2020 in atemberaubender Geschwindigkeit weltweit ausgebreitet – und dabei auch Länder mit hohen Einkommen erfasst, die in den letzten Jahrzehnten kaum von größeren Epidemien wie SARS, MERS oder Ebola betroffen waren.

Ebenso hat die Covid-19-Pandemie verdeutlicht, wie Ansteckungsrisiken und der Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Impfangeboten sowohl innergesellschaftlich als auch global äußerst ungleich verteilt sind. In Deutschland hatten vor allem ältere Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen wie Adipositas oder Diabetes mellitus ein hohes Risiko für schwere Krankheitsverläufe.

Diese Gesundheitsrisiken verschränkten sich rasch mit sozioökonomischen Faktoren. Insbesondere Angehörige sozial eher schlechtergestellter Gruppen – etwa Personengruppen, die in sogenannten systemrelevanten Berufen wie Pflege, Bau oder Lebensmittelversorgung tätig waren – konnten sich weniger vor einer Ansteckung schützen.

Auch im globalen Zusammenhang wurden soziale und strukturelle Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung und ungleiche Schutzmöglichkeiten vor schweren Corona-Infektionen sichtbar. Das betraf zum einen die Ressourcen der Gesundheitssysteme. So wurden Erkrankte in Indien oder Brasilien nur mangelhaft mit Sauerstoff versorgt. Zum anderen galt dies für die bis heute deutlich niedrigere Verfügbarkeit von Impfstoffen in den meisten Ländern mit niedrigen Einkommen – viele davon auf dem afrikanischen Kontinent.

Medizinanthropologie als ­Forschungsfeld

Die mit der Covid-19-Pandemie verbundenen Fragen nach sozial und demographisch spezifischen Gesundheitsrisiken sowie gesellschaftlich und global ungleichen Zugängen zu Gesundheitsversorgung stehen auch im Fokus der Medizinanthropologie. Seit den 1960er-Jahren hat sich diese Subdisziplin der Sozial- und Kulturanthropologie insbesondere in Nordamerika als heute größtes Teilgebiet des Fachs mit Blick auf Forschungs- und Lehrprogramme sowie Arbeitsfelder etabliert.

Medizinanthropolog*innen erforschen die durch Geschlecht, sozialen Hintergrund und kulturelle Sozialisation unterschiedlich geprägten Wahrnehmungen und Erfahrungen spezifischer Gesundheitsphänomene aus Sicht der betroffenen Personen. Auch untersuchen sie den Umgang mit gesundheitlichen Herausforderungen in der Interaktion zwischen diesen Personen und ihren jeweiligen Netzwerken. Beispiele hierfür sind Schutz vor physischen und mentalen Krankheiten und deren Behandlung oder Reproduktionsfragen.

Gerade in ressourcenschwachen Regionen sind Menschen dabei oft stärker auf die Unterstützung durch nichtstaatliche Organisationen sowie auf familiäre und andere soziale Gemeinschaften angewiesen als in den Industrienationen. In Letzteren sind gerade sozial bessergestellte Gruppen durch Krankenversicherung und ein oft viel dichteres Netz der Gesundheitsversorgung abgesichert. Gleichzeitig gibt es auch hier große Unterschiede in der gesundheitlichen Absicherung, etwa zwischen den Wohlfahrtsstaaten Nordeuropas und den stark kapitalisierten Gesundheitssystemen Nordamerikas.

Die enge Verflechtung zwischen individuellen und kollektiven Erfahrungen von Gesundheit und Krankheit mit den Bedingungen der Gesundheitssysteme, in denen diese situiert sind, zeigt, wie relevant politisch-ökonomische Voraussetzungen in der Medizinanthropologie sind.

Ungleichheiten im Zugang zu Gesundheitsversorgung innerhalb von Ländern mit hohen Einkommen bestehen vor allem aufgrund sozialer und sprachlicher Barrieren und benachteiligen unter anderem Migrant*innen stark.

Auf globaler Ebene ist ungleiche Gesundheitsversorgung zum Beispiel sichtbar, wo ressourcenschwache Länder oft von internationaler Finanzierung abhängig sind und Markt- und Pharmainteressen den Zugang zu Medikamenten (etwa gegen Malaria oder HIV/Aids) bestimmen.

Schließlich sind historische und politische Faktoren ausschlaggebend für die Art der medizinischen Versorgung in bestimmten Ländern. Während die Biomedizin – verstanden als die auf universalen biologischen Grundlagen gründende Medizinform – in den westlichen Industrienationen stark dominiert, ist ihre Geschichte in vielen Ländern Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas eng mit der gewaltsamen Geschichte des Kolonialismus verbunden.

Hier besteht oft eine große Vielfalt an Heilungsangeboten (etwa von „traditionellen“ Heiler*innen, christlichen Heilungskirchen oder Medizinsystemen wie Ayurveda oder Homöopathie), die von Menschen komplementär zur oder anstelle der Biomedizin genutzt werden. Gleichzeitig existiert auch in den westlichen Industrienationen ein wachsender Markt für spirituelle oder alternative Medizin.

Medizinanthropologie und Global Health

Das Feld der Globalen Gesundheit hat in den letzten Jahren neue Herausforderungen und Möglichkeiten für die Subdisziplin geschaffen. „Global Health“ ist zu einem schnell wachsenden Arbeits- und Forschungsfeld geworden, das sich an Universitäten weltweit mit eigenen Studien- und Forschungsprogrammen etabliert hat. Medizinanthropolog*innen sind hier in eine Vielzahl multidisziplinärer Lehr- und Forschungskooperationen eingebunden oder arbeiten für eine der zahlreichen internationalen Gesundheitsorganisationen in diesem Feld.

Ein wichtiger Aspekt medizinanthropologischer Forschung in Projekten und Programmen zur Globalen Gesundheit ist ihre Fähigkeit zur Übersetzung zwischen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten. Das tiefe Eintauchen von Medizinanthropolog*innen in lokale Gemeinschaften im Rahmen langfristiger Feldforschungen erzeugt das notwendige Vertrauen und Einblicke, die helfen zu verstehen, wie Menschen mit spezifischen Therapie- und Präventionsangeboten umgehen – oder warum sie diese etwa im Falle neuer gesundheitlicher Herausforderungen wie der Covid-19-Pandemie ablehnen.

Ebenso kann die Medizinanthropologie aufzeigen, welche Ressourcen Menschen bei lebensbedrohlichen oder chronischen Erkrankungen in Abhängigkeit von ihren Lebensumständen mobilisieren und welche Rolle neue und alte Netzwerke der Solidarität (Familien, religiöse und andere Gemeinschaften) hierbei spielen.

Gleichzeitig macht sie deutlich, welche Gruppen einer Gesellschaft von Diskriminierung besonders betroffen sind, etwa bei stigmatisierten Krankheiten wie HIV/Aids oder auch bei unterschiedlichen Formen von Behinderung – und welche spezifischen Bedürfnisse marginalisierte Personen in der Gesundheitsversorgung mit Blick auf medizinische, materielle, psychologische und sprachliche Unterstützungsangebote haben.

Schließlich richten Medizinanthropo­log*innen ihren Fokus auch auf Mechanismen der Gesundheitsversorgung selbst und die Frage, wie Therapie, Pflege und Prävention – und zugrunde liegende Rahmenbedingungen – generell verbessert werden können. Ein Beispiel hierfür ist Kommunikation und Praxis von Präventionsprogrammen und Impfkampagnen, die Menschen mit unterschiedlichen sozialen, Geschlechts- und Altershintergründen erreichen wollen.

Ebenso machen staatliche und nichtstaatliche Interventionen bei neu auftretenden Epidemien deutlich, mit welchen Herausforderungen Gesundheitsorganisationen in einer globalisierten Welt konfrontiert sind. Gerade die „emergency responses“ internationaler Organisationen bei Epidemien wie Ebola haben gezeigt, dass es in den betroffenen Gesellschaften oft starkes Misstrauen gegenüber solchen Interventionen gibt. Diese nehmen sich oft wenig Zeit, um sich auf spezifische lokale Gegebenheiten und Bedürfnisse einzulassen, und stehen somit häufig indirekt in der langen Geschichte kolonialer und postkolonialer Dominanz.

Medizinanthropolog*innen haben in allen diesen Situationen die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Kontexten als Mittler zu fungieren und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Ihr Blick liegt auf den Ressourcen und Handlungspotenzialen individueller Personen und lokaler Gemeinschaften – auf der ganzen Welt.

Literatur

Dilger, H. und Hadolt, B. (Hg.), 2010: Medizin im Kontext: Krankheit und Gesundheit in einer vernetzten Welt. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Yates-Doerr, E., 2019: Whose Global, Which Health? Unsettling Collaboration with Careful Equivocation. American Anthropologist 121, 297–310.

Hansjörg Dilger ist Professor für Sozial- und Kulturanthropologie und Leiter der Arbeitsstelle Medical Anthropology / Global Health an der Freien Universität Berlin.
hansjoerg.dilger@berlin.de

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