Finanzierung

Überschuldung durch Mikrokredite?

Laut wissenschaftlich fundierten Wirkungsstudien haben Mikrokredite kaum positive Auswirkungen auf Einkommen oder Konsum der Kreditnehmer. Einer der Gründe ist das Überschuldungsrisiko. Mikrokreditnehmer, die Zugang zu formalen Mikrofinanzinstituten haben, sind aber einem geringeren Überschuldungsrisiko ausgesetzt, wie eine neue Studie zeigt.

Die Aufnahme von Krediten impliziert eine optimistische Zukunftserwartung. Die Kreditnehmer gehen davon aus, dass sie in Zukunft genug Geld verdienen, um den geliehenen Betrag und die Zinsen zurückzuzahlen. Verhaltensökonomische Forschung  zeigt, dass der Mensch zum „Über-Optimismus“ neigt. Wenn sich der Optimismus nicht erfüllt, fällt der Kredit entweder aus oder die Kreditnehmer müssen Wertgegenstände verkaufen oder ihren Konsum einschränken. Die Forschung zeigt, dass Mikrokreditnehmer oft ihren Alltagskonsum einschränken, um die Kreditrückzahlungen pünktlich zu leisten. Einschränkungen von Zigaretten oder gesüßtem Tee mögen zumutbar erscheinen, reduzierte Mahlzeiten für schulpflichtige Kinder sicherlich nicht.

Kreditausfall war ein bestimmender Faktor in Mikrofinanzkrisen wie in Bolivien Ende der 1990er-Jahre, in Bosnien-Herzegowina und in Indien Ende der 2000er-Jahre und wird derzeit mit Sorge in Mexiko beob­achtet. Kreditausfall bedeutet, dass die Mikrofinanzinstitute (MFI) auf faulen Krediten sitzen – also die Kreditrückzahlungen ausbleiben. Wenn dies in großem Maße passiert, kann Kreditausfall ein ganzes System zerstören. Mikrokredit als Gruppenkredit – wie durch die Grameen-Bank weltweit verbreitet – motiviert durch das Versprechen eines Anschlusskredits sowohl die Gruppenmitglieder als auch die Kreditbetreuer des MFI; ist also ein besonders anfälliges System.

Kreditausfall ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Überschuldung. Zum Beispiel verweigerten Mikrokredit-Gruppenmitglieder in den oben genannten Krisen die Rückzahlung, nicht unbedingt weil sie überschuldet waren, sondern weil die Aussicht auf den Anschlusskredit schwand, weil das MFI Liquiditätsprobleme wegen der Kreditausfälle hatte.

Überschuldung in der Kreditnehmerperspektive ist bisher vor allem in qualitativen Studien indirekt gemessen worden. Einen exzellenten Überblick über diese Literatur bietet Roodman (2012). Es gibt zudem mehrere neuere Studien, die Überschuldung thematisieren.


Verheerender Umschuldungszyklus

Mader (2015) hat in einer ethnographischen Studie gezeigt, wie Überschuldung vietnamesische und indische Haushalte belastet. Kreditnehmer in weiteren Studien berichten, „unglücklicher zu sein als Leute ohne Kredit“ (Mader 2013). Diese Kreditnehmer sind meist Kunden der großen indischen Mikrofinanzanbieter, die nach dem Gruppenkreditmodell operieren. Mader argumentiert, dass diese Anbieter ihre Kunden in einen verheerenden Zyklus von Umschuldungen drücken – wobei der Kredit des einen Mikrofinanzanbieters zur Rückzahlung des anderen verwendet wird.

Umschuldungen sind unter Mikrokreditnehmern in der Tat gang und gäbe. Wie Mader haben auch andere Autoren dokumentiert, dass Kredite oft zur Rückzahlung anderer Kredite verwandt werden. Allerdings nimmt die moderne Mikrofinanzbewegung auch für sich in Anspruch, durch ihre Gruppenkredite die teureren Geldverleiher abzulösen. In solchen Fällen geht die Umschuldung mit verringerter Zinslast einher. Zahlen aus Indien stellen allerdings in Frage, ob der Anspruch der formalen MFI, die Geldverleiher zu vertreiben, systematisch erfüllt wird. Belege deuten eher darauf hin, dass das Geschäft der Geldverleiher parallel zu den MFI floriert.

Schicks (2013) hat einen innovativen Ansatz entwickelt, der Überschuldung in Form von Einschränkungen (‚sacrificies‘) misst. Die Autorin unterscheidet zwischen strukturellen Einschränkungen mit langfristiger Wirkung, zum Beispiel dem Verkauf von Vermögen oder Umschuldung, und nicht-strukturellen, jedoch unakzeptablen Einschränkungen wie weniger und schlechtere Nahrung, verringerte Bildungsausgaben und medizinische Vorsorge. Haushalte mit mehr als drei übermäßigen Einschränkungen im Untersuchungszeitraum wurden als überschuldet eingestuft.

In einer quantitativen Haushaltsbefragung von über 500 Mikrokreditkunden in Ghanas Hauptstadt Accra wurde knapp ein Drittel als überschuldet eingestuft (Schicks 2013). Die KfW Entwicklungsbank, die viele MFI refinanziert, hat ebenfalls eine Studie zur Überschuldung in Uganda angestoßen. Während Schicks jedoch ausschließlich aktive Mikrokreditnehmer formaler MF-Anbieter auswählte, bezieht diese Studie Kreditnehmer verschiedener MFI ein. Dies erlaubt, die gemessene Überschuldung in Beziehung zur Kreditquelle zu setzen.

Heraus kam, dass Haushalte, die ausschließlich formelle Kredite unterhalten, sogar weniger Einschränkungen machten als jene, die gar keinen Kredit aufgenommen hatten. Deutlich mehr Einschränkungen erfahren jene Haushalte, die Kredite von mehreren Quellen erhalten – neben formellen auch von informellen oder semi-formellen MFI. Die meisten Einschränkungen machten jene Haushalte mit semi-formellen Kreditquellen.

Nicht jede Einschränkung ist ein Zeichen von Überschuldung. Vielmehr ist zu erwarten, dass Kreditnehmer hin und wieder Einschränkungen machen, wenn ihr Einkommen schwankt und eine Kreditrückzahlung ansteht. Wie die Grafik zeigt, machen selbst Haushalte ohne Kredit gelegentlich Einschränkungen. Einschränkungen, die die KfW (2015) als Stress bezeichnet, sind vielmehr ein plausibler Indikator für Überschuldung. Haushalte mit mehreren Kreditquellen machen entsprechend im Durchschnitt mehr Einschränkungen als solche mit nur einer Kreditquelle. Semi- und informelle Kreditquellen verursachen möglicherweise deshalb mehr Stress als formelle, weil Letztere in Uganda an das Kreditinformationsbüro berichten. Dadurch wird die Kredithöhe an die Zahlungsfähigkeit angepasst, was jedoch für semi- und informelle Kreditquellen nicht der Fall ist. Intuitiv schlüssig ist, dass Haushalte, die zusätzlich zu einem vorsichtig kalkulierten formellen Kredit einen weiteren, schwach geprüften Kredit hinnehmen, entsprechend Stress verspüren.

Organisationen wie KfW und GIZ, die am „institutionellen Setting“ von Mikrofinanzmärkten arbeiten, können sich durch die neuesten Ergebnisse zur Überschuldung bestätigt sehen. Institutionelles Setting beschreibt das Wechselspiel zwischen Regeln und Organisation. Wenn MFIs schnell wachsen und wenig Anreize haben, die Wirkungen ihrer Kreditvergabe robust zu messen oder ihr Angebot über Mikrokredite hinaus auszudehnen, und stattdessen eine laxe Rechenschaftspflicht haben, dann ist Überschuldung so gut wie zwangsläufig. Wenn aber die Wirkung fundiert gemessen wird und es entsprechende Regulierung gibt, etwa durch Kreditinformationsbüros, dann wird der Zugang zu Mikrokrediten einen soliden Beitrag zur menschlichen Entwicklung leisten.


Oliver Schmidt hat in Indien und Uganda in der Finanzsektorentwicklung gearbeitet. Seit Ende 2016 ist er als freier Berater tätig und unterstützt unter anderem die ugandische Nichtregierungsorganisation New Africa Mindset Mentoring Institute (NEMMIA) beim Aufbau von ländlichen Spargruppen.
oliver@iqpconsult.de


Literatur

Ausführliche Fassung dieses Beitrags, mit detaillierter Darstellung der verschiedenen Mess- und Studienmethoden von Überschuldung:
http://www.researchgate.net/publication/315691028_Mikrofinanz_ohne_Hype
KfW Entwicklungsbank, 2015: Financial struggling in Uganda – Who struggles more and why? KfW Evaluation Update No. 2.
https://www.kfw-entwicklungsbank.de/PDF/Evaluierung/Themenbezogene-Evaluierungen/Nr2_Financial_Struggling_in_Uganda.pdf
Mader, P., 2013: Scheitern auf Raten. In: Max Planck Forschung 3/2013, S. 12-17.
https://www.mpg.de/7540958/MPF_2013_3.pdf
Mader, P., 2015: The political economy of microfinance – financializing poverty. London et al: Palgrave MacMillan.
Roodman, D., 2012: Due diligence – an impertinent inquiry into microfinance. Brookings Institution Press.
Schicks, J., 2013: The sacrifices of micro-borrowers in Ghana – a customer protection perspective on measuring over-indebtedness. Journal of Development Studies, Vol. 49(9).

 

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