Armutsbekämpfung

Aussagekräftige Ziele

Obwohl mittlerweile fest steht, dass die Millennium Development Goals (MDGs) in ihrer Gesamtheit bis 2015 nicht erreicht werden, haben sie der internationalen Entwicklungspolitik wichtige Impulse gegeben. Die Stärke der Millenniumsziele ist ihre Quantifizierbarkeit. Sie wirft aber zugleich die Frage auf, ob mittels der gewählten Kennzahlen Fortschritte im Kampf gegen die Armut hinreichend präzise gemessen werden können. Die Diskussion über Entwicklungsziele und geeignete Indikatoren weist weit über das Stichjahr 2015 hinaus.


[ Von Markus Wauschkuhn und Uwe Singer ]

An präzise definierten Kennzahlen lässt sich MDG-Erfolg und -Misserfolg ablesen. Deshalb dienen diese UN-Vorgaben mittlerweile als Maßstäbe, um einzelne Länder zu bewerten: Gelingt es einem Staat, bis 2015 die Zahl der absolut Armen (gemessen am Basisjahr 1990) zu halbieren? Kommt er damit voran, die Müttersterblichkeit um 75 Prozent zu reduzieren? Werden in fünf Jahren alle Kinder im entsprechenden Alter zur Schule gehen?

Die MDG-Agenda hat eine überraschend starke Dynamik entfaltet und viel mehr bewirkt, als Kritiker ursprünglich für möglich hielten. Skeptiker sagten zunächst, es handele sich nur um unverbindliche Absichtserklärungen. In der Tat hatten sich die Staats- und Regierungschefs zwar im Jahr 2000 auf eine Liste von Zielen geeinigt, aber nichts dazu gesagt, wer für die Erreichung verantwortlich sein sollte.

Inzwischen sind zwei Drittel der Zeit bis zum Stichdatum 2015 vergangen, und die Zwischenbilanz ist mager: Es ist mittlerweile klar, dass die Menschheit die MDGs in ihrer Gesamtheit nicht erreichen wird – nicht zuletzt wegen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die viele Entwicklungsländer zurückwirft. Dennoch ist kaum umstritten, dass die Millenniumserklärung eine wichtige Innovation war. Ihre quantifizierbaren Ziele haben sich in vielfacher Weise als nützlich erwiesen.

Zum Beispiel haben sie – in Verbindung mit den Armutsbekämpfungsstrategien (PRSP), welche Entwicklungsländer vorlegen müssen, wenn sie Geld von der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds wollen – zu stärkerer Ownership beigetragen. Die MDGs sind eben keine einseitigen Vorgaben der Geber, sondern fußen auf dem Konsens der Staats- und Regierungschefs im UN-Kontext. Wichtiger noch: Die Agenda taugt als konstruktive Diskussionsgrundlage für die Innenpolitik der Entwicklungsländer. Die MDGs können sich daher im Wortsinn als „zielführend“ erweisen.

Relevante Daten

Die Einbettung in die nationalstaatliche Politik wirft indessen auch Fragen auf. Häufig sind die Statistikbehörden der Entwick­lungsländer nicht in der Lage, die nötigen Daten bereitzustellen. Das betrifft beispielsweise Dinge wie Beschäftigung und Einkommen (MDG 1). In vielen Volkswirtschaften spielt der informelle Sektor eine bedeutende Rolle, wird aber vom amtlichen Statistikwesen kaum erfasst. Das gilt entsprechend auch für die Subsis­tenzlandwirtschaft, von der sehr viele arme Menschen leben.

Das Ziel der Armutsbekämpfung ist universell. Was es aber in der Praxis bedeutet, hängt von örtlichen Umständen ab. Politische Strategien, welche die „coping strategies“ der armen Menschen weder kennen noch berücksichtigen, sind wenig erfolgversprechend. Das bedeutet im Umkehrschluss: Entwicklungsländer brauchen Statistiken, die ihrer Lebenswirklichkeit entsprechen. Capacity Building, wie InWEnt es leistet, trägt dazu bei, dass Ämter und Behörden Daten erheben und verarbeiten, die diesem Anspruch gerecht werden. Entsprechend taugen die Statistiken dann auch als Grundlage für die innenpolitische Diskussion und für die strategische Planung der Regierung.

Allerdings können auch augenscheinlich eindeutige MDG-Daten in die Irre führen. MDG 7 ist die nachhaltige Sicherung der Umwelt. Aber was den Schutz der biologischen Vielfalt angeht, sind amtliche Statistiken nicht immer aufschlussreich. Bloße Angaben darüber, welche Flächen als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind, verraten eben noch nichts über ihren tatsächlichen Zustand und die Art des vorherrschenden Ressourcenmanagements.

Ein Unterziel des MDG 7 betrifft derweil die Verbesserung der Wasserinfrastruktur. Es geht darum, die Versorgung mit Trinkwasser und die Sanitärversorgung so zu verändern, dass weniger Menschen krank werden. Typischerweise werden Daten über neu angeschlossene Leitungen und Toiletten erfasst. Ob die Zielgruppen diese dann auch tatsächlich benutzen, ist aber eine ganz andere Frage. Die Erfahrung aus vielen Ländern lehrt, dass beispielsweise in der Regenzeit oft natürliche Wasservorkommen genutzt werden, weil sie buchstäblich nahe liegen. Das kann aber mit Blick auf die Gesundheit fragwürdig sein.

MDG 6 ist die Eindämmung und Zurück­drängung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria. Zur Erfolgsbeurteilung werden zuverlässige Diagnosen gebraucht. Oft registriert die amtliche Statistik aber nur bei wohlhabenden Menschen korrekt Malaria als Todesursache, weil diese die Dienste wissenschaftlich qualifizierter Ärzte in Anspruch nehmen. Allzu oft werden Todesursachen armer Menschen im ländlichen Raum gar nicht erfasst oder als nicht weiter spezifiziertes „hohes Fieber“ angegeben.

Große Fortschritte haben viele Länder bezüglich ihrer Einschulungsraten gemacht (MDG 2). In Kenia ist derzeit zum Beispiel von Quoten über 100 Prozent die Rede (siehe Monitor S. 226): Dank der politischen Anstrengungen werden nun nämlich auch Kinder älterer Jahrgänge erfasst, die bisher dem Unterricht ferngeblieben waren.

Schulbesuch ist aber nicht alles. Was wirklich zählt, ist, dass die Kinder die Dinge lernen, die sie brauchen, um später ihr Leben zu meistern und möglichst gute Arbeit zu finden. Die Qualität von Schulen misst das MDG aber nicht. Zuverlässige und aussagekräftige Daten darüber sind wünschenswert – und müssen auf nationalstaatlicher Ebene generiert werden.

Das Bewusstsein für die Relevanz der amtlichen Statistik in Entwicklungsländern wächst. Die Kommission der ­ECOWAS (Economic Community of West African States) etwa arbeitet mit Unterstützung von InWEnt an einem einheitlichen Monitoringsystem für die Armutsbekämpfungsstrategien ihrer Mitgliedsländer. Es kommt dabei nicht nur darauf an, zuverlässige Daten zu erheben, sondern diese auch zu einem realistischen Bild zu verarbeiten.

Es ist kein Zufall, dass auch das Interesse an Statistiken wächst, die nicht unmittelbar mit der MDG-Agenda zu tun haben. Fachleute arbeiten beispielsweise an der Definition von Indikatoren, um Aspekte der Amts- und Regierungsführung schlüssig bewerten zu können. Relevant sind dabei Dinge wie Partizipation der Bevölkerung, Bestechlichkeit von Amtsträgern oder die Rechtssicherheit (siehe Aufsatz von Emily Calaminus, S. 244 ff.).

Trotz der offensichtlichen methodischen Schwierigkeiten haben solche Fortschrittsindikatoren in manchen Ländern auch schon Eingang in die Armutsbekämpfungsstrategien gefunden. Ein diesbezügliches InWEnt-GTZ-Capacity-Building-Programm in Sambia unterstützte nationale Akteure bei der Konzeption einer Datenerhebung im Bereich Governance – einschließlich der institutionellen Einbettung in ein Governance-Sekretariat, dem Vertreter wichtiger nationaler Stakeholder angehören. Besonders wertvoll sind selbstverständlich Indikatoren, die nicht nur die Realität angemessen widerspiegeln, sondern darüber hinaus auch Aufschluss darüber geben, wo politische Reformen sinnvollerweise ansetzen sollten.

Globaler Ehrgeiz

Auf der globalen Ebene laufen derzeit weitere zukunftsweisende Projekte. Die Weltbank, das UNDP und verschiedene Geber unterstützen Studien unter dem Stichwort „Poverty and Social Impact Analysis“. Dabei geht es darum, Entwicklungsprozesse so zu modellieren, dass die Ergebnisse von Reformen wie etwa die Einführung einer Steuer in einem Land ex ante analysiert werden können. Zugleich würde es die Methodik auch erlauben, die Auswirkungen der Finanzkrise auf bestimmte Bevölkerungsgruppen abzuschätzen. Solche Zahlenspiele wären freilich offensichtlich wertlos, wenn sie nicht in empirischen Daten verankert werden können.

Noch einen Schritt weiter geht eine Kooperation von InWEnt mit dem Global Project on Measuring Progress of Societies der OECD. Das Ziel ist, Indikatoren für „Ent­wick­lung“ zu identifizieren, die über abstrakte Größen wie Pro-Kopf-Einkommen hinausgehen. Das Vorhaben baut auf der Arbeit der internationalen Kommission unter der Leitung von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz auf, die im vorigen Sommer ihren Abschlussbericht vorgelegt hat (http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/en/membres.htm).

Der Kommission gehörten neben Stiglitz viele weitere namhafte Wissenschaftler an. Sie machten deutlich, dass viele Faktoren die Lebensqualität der Menschen prägen – unter anderen auch der ökologische Zustand des Wohn- und Arbeitsumfelds, die Möglichkeiten der Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben oder ganz banal Urlaub und Freizeit. Die Kommission hat damit auf hohem akademischem Niveau den Rahmen für künftige aussagekräftige Entwicklungsziele abgesteckt.

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