Jugendliche

Sich und andere achten

In São Paulo fördert das „Programm Guri“ mit einem stadtweiten Netzwerk von Musikschulen soziale Inklusion. Obwohl die Schulen in benachteiligten Vierteln angesiedelt sind, haben sie nicht die Disziplinprobleme, die das öffentliche Bildungssystem plagen.
Ein Instrument zu beherrschen stärkt das Selbstbewusstsein. Hornsby Ein Instrument zu beherrschen stärkt das Selbstbewusstsein.

Das Leben in São Paulo ist hart und viele Paulistanos sind entsprechend fatalistisch. Nicht so Paulo Zuben. Der Komponist und Musikwissenschaftler ist künstlerischer und pädagogischer Leiter des Programms Guri Santa Marcelina, das Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Stadtteilen hochwertig musikalisch ausbildet.

Guri unterrichtet in 46 Musikschulen im Großraum São Paulo mehr als 13 000 Kinder und Jugendliche. Über Musik­erziehung, die Familien und Nachbarn einbezieht, stärkt es von früh an bürgerschaftliches Bewusstsein. Guri wird vom Staat São Paulo finanziert und von der nichtstaatlichen Organisation Santa Marcelina Cultura (SMC) durchgeführt. SMC gehört zur katholischen Mission Santa Marcelina, die unter anderem zwei Hochschulen und eine Großklinik in São Paulo betreibt. Außer Guri hat SMC auch ein Konservatorium von internationalem Rang, die Escola de Música do Estado de São Paulo.

Im Konservatorium, das im Stadtzentrum liegt, ist auch Zubens Büro. Von seinem Fenster aus kann er krasse Gegensätze beobachten: Im Schatten der Sala São Paulo, dem prächtigen  Konzerthaus des namhaften städtischen Symphonieorchesters, schlafen Crack-Abhängige und Alkoholiker. Anwohner nennen diese Umgebung, wo auch schon Musikstudenten ausgeraubt wurden, „Crackland“. Die Freude der Studenten in den überfüllten Fluren des Konservatoriums ist davon jedoch ungetrübt.

Guri ist ein ambitioniertes Programm. Es will unter anderem Schülern mit geringem sozio-ökonomischen Status die Fähigkeiten vermitteln, die sie brauchen, um in dieses erstklassige Konservatorium aufgenommen zu werden. Es geht aber nicht nur um Musik. Zuben ist sicher, dass seine Arbeit zu mehr sozialer Inklusion beiträgt: „Wir glauben, dass unser Einsatz weit mehr bewirkt als reine Musikerziehung. Wir machen das Leben von Kindern, Jugendlichen und den Gemeinschaften, denen sie angehören, besser. Wir fördern sie in einem Bereich, in dem sie sonst keine Chancen hätten.“

Der Guri-Lehrplan sieht Gruppeninstrumentalunterricht für Schüler zwischen sechs und 18 Jahren vor. Sie lernen Musiktheorie, haben Rhythmus-Training, spielen Kammermusik und singen im Chor. Die Schüler können unter 22 verschiedenen Instrumenten wählen, die viele sich von Guri ausleihen, weil sie sich keine
eigenen leisten können. Die meisten üben in Schulräumen, aber einige fortgeschrittene Schüler dürfen die Instrumente auch mit nach Hause nehmen.  

Das sozial-pädagogische Modell von SMC ist eine Kombination aus Musikerziehung und Sozialhilfe. Die 200 Musiklehrer arbeiten eng mit einem Team von Sozialarbeitern zusammen. Deren Aufgabe ist es, soziale und familiäre Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die die musikalische Ausbildung behindern könnten.

„Die Sozialarbeiter sorgen dafür, dass unsere Schüler dabei bleiben und nicht aus dem Programm aussteigen“, sagt Zuben. „Unsere Schulen wurden absichtlich an ­sozialen Brennpunkten errichtet, wo Teen­ager-Schwangerschaften, Alkoholismus, Drogenmissbrauch und häusliche Gewalt häufiger vorkommen als in besseren Gegenden.“ Die Sozialarbeiter informieren die Eltern unter anderem über Dinge wie Jobtrainings oder Gesundheitsdienste. „Sie helfen den Eltern, sich ihrer Pflichten den eigenen Kindern gegenüber bewusst zu werden“, so Zuben.

Aus Sicht von Ricardo Appezzato, einem der pädagogischen Koordinatoren von Guri, geht es aber um mehr: „Wir fördern staatsbürgerliches Verhalten. Wir klären die Eltern unter anderem über Rechte  auf, etwa über das Estatuto da Criança e do Adolescente.“ Dieses Gesetz über die Rechte von Kindern und Heranwachsenden wurde 1990 erlassen und entspricht allen internationalen Standards. Viele arme Brasilianer wissen darüber allerdings nichts – und schon gar nicht, wie sie ihre Rechte durchsetzen könnten.


Das Recht, ein Instrument zu spielen

Die Guri-Philosophie ist, dass jedes Kind das Recht darauf hat, Musik zu machen, und entsprechend auch Anspruch auf den Gebrauch eines Instruments hat. Es sei ein „weit verbreitetes Missverständnis“ zu glauben, Musik diene der „Entspannung“, beklagt Appezzato. Tatsächlich trainiere Musik persönliche Disziplin, sei emotional erfüllend und schärfe den Gemeinschaftssinn. Daher gehöre Musik genauso auf den Lehrplan „wie Mathematik und Naturwissenschaften“.

Appezzato zufolge mindert Musikerziehung bei sozial schwachen Schülern Gefühle der Unterlegenheit und Ohnmacht. „Sie lernen Selbstachtung, aber auch Achtung vor anderen Menschen und ihren Instrumenten. Sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand, treffen ihre eigenen Entscheidungen und lernen, sich auszudrücken.“ Zuben sieht das Orchester als „Metapher für Staatsbürgerschaft“, denn die Studenten erfahren, dass jede einzelne Stimme zählt. Sie müssen anderen zuhören und mit ihnen harmonieren. Alle müssen ihr Bestes geben. „Beim Musizieren praktiziert man Respekt – sich selbst und anderen gegenüber“, betont Appezzato.

Ohne Teamgeist geht es nicht: Die Schüler proben an verschiedenen Orten in zwei Symphonie-Orchestern, einem Streichorchester, einem Gitarrenensemble und zwei Konzertchören. Viele legen im Großraum São Paulo enorme Strecken zurück, um zusammen zu musizieren. Manche nehmen dafür mehr als drei Stunden Busfahrt auf den chronisch verstopften Straßen in Kauf. Jeasil da Silva Santos, ein junger Hornist, berichtet: „Ich stehe um 5:30 Uhr auf, um vor den Proben um 8:00 Uhr genug Zeit zu haben, mich einzuspielen.“ Er möchte nichts verpassen, denn „bei jeder Probe“ lerne er etwas hinzu. „Man wächst und kommt voran.“ Dann ergänzt er mit einem scheuen Lächeln: „Ich bin ein Künstler.“


Vertragliche ­Verantwortung

Mangelnde Disziplin ist bei Guri – anders als in den staatlichen Schulen – kein Thema. Appezzato erklärt: „Wir haben einen Verantwortlichkeits-Vertrag mit den Schülern.“ Zu diesem Deal gehört, dass die Schüler jedes Jahr eine Evaluation ihrer eigenen Leistungen schreiben. Außerdem gibt es regelmäßige Vollversammlungen, um über bevorstehende Herausforderungen zu diskutieren und gemeinsam zu entscheiden, welche Regeln die Schule braucht. „Unser Ansatz ermutigt die Schüler zu selbstständigem und kritischem Denken – und dazu, sich aktiv zu betei­ligen“, sagt der Guri-Koordinator. Appezzato berichtet, viele Schüler könnten weder lesen noch schreiben, wenn sie zu Guri kommen: „Das staatliche Schulsystem ist ungenügend und erniedrigend. Die Lehrer sind schlecht ausgebildet, mies bezahlt und haben kein Selbstwertgefühl. Und sie haben das Vorurteil, die Schüler könnten gar nichts lernen.“

Bei Guri ist das anders. Lehrer und Mitarbeiter werden nach strengen Kriterien ausgewählt. Für die Schüler und deren Familien gibt es das Alphabetisierungs-Programm „uri pra Valer“. Der Name ist ein Wortspiel, denn „valer“ bedeutet etwas wert sein und „ler“ lesen.

Guri fördert mit internationaler Zusammenarbeit auch Respekt für soziokulturelle Vielfalt. SMC hat ein Netzwerk von internationalen Partnerinstitutionen geknüpft, zu dem unter anderem die Juilliard School in New York, das Pariser Konservatorium und die Kölner Musikhochschule zählen.

Katherine Zezerson vom britischen Sage Gateshead Project ist eine der Musikerinnen aus aller Welt, die den Guri-Ansatz schätzen. Sie ist voriges Jahr mehrfach für Guri-Workshops und Konzerte nach Brasilien gereist. „Unsere Institutionen sind durch die Partnerschaft beide gewachsen“, sagt sie, und der Schüler Daniele de Almeida stimmt zu: „Die Musik verbindet uns, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen.“
 

Sarah Hornsby ist Flötistin und promoviert an der Universidade de São Paulo.
sbhornsby@yahoo.com

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