Reproduktive Gesundheit

Sexualaufklärung unter Gottes Aufsicht

Familienplanung und die Prävention von HIV/AIDS sind für die Entwicklung afrikanischer Gesellschaften wichtig. Religiöse und gesellschaftliche Tabus stehen aber Aufklärung vielfach im Weg. Pflegekräfte im Gesundheitswesen sind wichtige Multiplikatoren.

[ Interview mit Ursula Schoch ]


Sie haben von 2002 bis 2005 für InWEnt das Programm „Sexualaufklärung, HIV/AIDS-Prävention und reproduktive Gesundheit“ in Niger, Ruanda und Kamerun geleitet. Während Ruanda hauptsächlich katholisch geprägt ist, dominieren in Niger sunnitische Muslime und in Kamerun gibt es neben 50 Prozent Christen, 20 Prozent Muslime und 30 Prozent Anhänger traditioneller Religionen. Beeinflusst der Glauben den Umgang mit dem Thema Sexualaufklärung?

Zunächst ist klar, dass es in vielen Religionen Vorbehalte gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr gibt. Außerdem wird das Thema stark tabuisiert. Für unsere Arbeit war vor allem wichtig, welche Schlüsse die Entscheidungsträger ziehen. Während die einen dafür plädieren, die Jugendliche möglichst früh aufzuklären, lehnen das andere mit dem Argument ab, Information animiere vielleicht junge Menschen erst zu sexuellen Handlungen.

Bitte nennen Sie ein Beispiel…
Sehr streng sind manche evangelikale Religionsgemeinschaften. Viele Baptisten etwa propagieren vollkommene Enthaltsamkeit vor der Ehe und wollen nicht, dass Jugendliche aufgeklärt werden.

Beziehen Sie sich auf ein bestimmtes Land?
Nein, evangelikale Bewerber für unsere Seminare aus unterschiedlichen Ländern betonten immer wieder, man solle Jugendliche auf den 'richtigen Weg' führen – also den der sexuellen Abstinenz. Das meinen aber auch Vertreter anderer Religionen, die ihren Glauben eher fundamentalistisch auslegen.

Der Unterschied zwischen den Religionen ist also gar nicht so groß?
Teils, teils. Es kommt immer darauf an, wie dogmatisch die Menschen – und ihre geistlichen Vorbilder – ihre Religion interpretieren. In ganz Kamerun beispielsweise sind die Moralvorstellungen sehr klar. In der North-West Province, einer überwiegend christlich geprägten Gegend, gibt es aber relativ viele ungewollte Schwangerschaften unverheirateter Mädchen. Es wäre Unsinn, dass auf laxe Moralvorstellungen zurückzuführen. Viele junge Frauen bekommen Heiratsversprechen, die nicht eingelöst werden, weil sich junge Männer durch Wohnortwechsel dem Zugriff der Familie des Mädchens entziehen. Uns wurde gesagt, dass muslimische Familien in derselben Region in solchen Fällen auf jeden Fall eine Heirat herbei führen – ob mit dem Kindsvater oder jemand anderem. Folglich bekommt dort keine unverheiratete Muslimin ein Kind. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sie wirklich sittenstenger leben. Vielleicht werden ähnlich viele junge Musliminnen vor der Ehe schwanger, aber es fällt ihren Familien leichter, im Notfall eine Hochzeit zu arrangieren. Ein muslimischer Mann darf schließlich mehrere Frauen haben. Christliche Familien haben in diesem Sinne schlechtere Karten, wenn der leibliche Vater wegläuft.

Spielt für das Sexualverhalten die Frage Christentum oder Islam keine Rolle?
Oh doch, aber man darf nicht zu sehr verallgemeinern. Denn auch innerhalb der großen Religionen existieren verschiedene Strömungen, die den Glauben unterschiedlich auslegen. In Niger beispielsweise gibt es eine Minderheit von muslimischen Integristen…

… für die sich in der westlichen Welt die Bezeichnung Fundamentalisten durchgesetzt hat…
…und die ihren Glauben sehr strikt auslegen. Der traditionelle Islam im Niger ist toleranter, , aber nicht mit Blick auf das Sexualverhalten. Unsere Bilder im Kopf sind zu undifferenziert. Zum Beispiel habe ich habe einmal einen Imam aus Guinea kennengelernt, der Kondome verteilte. Er begründete das damit, dass erstens nichts über Kondome im Koran stehe und es zweitens fahrlässig sei, angesichts der fatalen Folgen der AIDS-Pandemie nichts zu tun. Sein Verhalten ist natürlich nicht die Regel.

InWEnt hat in Ruanda und Niger mit acht Krankenpflegeschulen zusammen gearbeitet. Was genau haben Sie gemacht?
Wir haben zusammen mit den Dozenten Unterrichtseinheiten zu reproduktiver Gesundheit entwickelt. Vor 2002 standen weder die Verhütung von HIV-Infektionen noch von anderen Geschlechtskrankheiten oder Themen der Familienplanung auf den Lehrplänen der staatlichen Krankenpflegeschulen. Das Personal, das hier ausgebildet wird, spielt aber in den Gesundheitssystemen eine zentrale Rolle. Oft leiten Absolventen in Eigenregie Krankenstationen oder Beratungsstellen. Sie sind auf alle Fälle Multiplikatoren und Vorbilder.

Welche glaubensbedingten Schwachstellen sehen Sie in der Beratung über HIV/Aids und Familienplanung?
Wer in der Beratung arbeitet, muss adäquat darauf vorbereitet werden. Dazu gehört zum einen das notwendige Fachwissen über Prävention und Diagnostik sexuell übertragbarer Krankheiten sowie Verhütung und Familienplanung. Sehr wichtig ist zudem der kompetente Umgang mit Jugendlichen. Tabus und Scham beeinträchtigen die Kommunikation, wenn es um reproduktive Gesundheit geht. Wie redet man mit jungen Menschen – vor allem Mädchen – die ein Problem haben? Finden männliche Jugendliche männliche Ansprechpartner? Für unverheiratete Jugendliche beiderlei Geschlechts erfordert der Gang zur Beratungsstelle eine enorme Überwindung. Die Warteräume sind öffentlich, Besuche sprechen sich schnell herum. Es gibt Fragen in der Familie und im Bekanntenkreis. Leider kommt es trotzdem vor, dass das Krankenpflegepersonal Hilfesuchende einfach wegschickt, weil ihr Problem nach gängigen Moralvorstellungen gar nicht existieren dürfte. Das kommt in jeder Religionsgemeinschaft vor. Die Tabuisierung lebt natürlich auch vom Unwissen und der Unsicherheit der Pflegekräfte. Bessere Ausbildung kann da wirklich helfen.

Dass es notwendig ist, Jugendlichen den Zugang zu Informationen und Diensten in Sachen reproduktive Gesundheit zu erleichtern, haben 179 Länder auf der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) bereits 1994 in Kairo anerkannt. Sehen Sie Fortschritt?
Veränderungen sind nur langfristig möglich. Es ist schwierig, Tabus zu überwinden. So leiden beispielsweise viele gläubige Dozenten an Krankenpflegeschulen unter Gewissenskonflikten. Die Lehrenden sich zwar einig sind, dass das Thema wichtig ist. Aber über das „Wie“ gibt es Differenzen. Die Pflegedozenten sind zunächst medizinisch motiviert, aber es stellt sich eben auch die Frage, was sie den Pflegekräften als „normal zu erwarten“ vermitteln sollen. Diese Frage hat für viele eine religiöse Dimension. Andererseits tun sich auch diejenigen, die Aufklärung grundsätzlich befürworten, schwer damit, mit Darstellungen von Geschlechtsteilen zu arbeiten oder offen über Sexualität, sexuelle Praktiken und die damit verbundenen Risiken zu sprechen.

Ohne Bildmaterial fällt der Unterricht aber schwerer.
Genau, deshalb haben wir ausführlich darüber diskutiert, was unbedingt illustriert werden muss und wie genau die Bilder sein dürfen. Ähnliche Probleme stellten sich beim Erklären von Verhütungsmitteln. Aber Bilder und Texte müssen auch so sein, dass junge Menschen sich von ihnen angesprochen fühlen und sie verstehen. Das dies gewährleistet ist, haben wir mit Tests sichergestellt. Als Erfolg werten wir, dass die staatlichen Ausbildungsstätten das Problem erkannt haben und ihre Lehrpläne auf unterschiedliche Weise modifiziert haben. Auf alle Fälle sind Denkprozesse ins Rollen gekommen.

Echtes Umdenken auch?
2005 haben wir Fachpersonal und Betroffene zu einem Seminar nach Potsdam eingeladen. Unter anderem war der Leiter einer katholischen Krankenpflegeschule dabei. Drei junge Frauen aus Kamerun, die ungewollt schwanger geworden waren, berichteten von ihren Erfahrungen. Danach kam der Leiter der Pflegeschule zu mir und sagte, ich hätte ihm „ganz schön Wasser in den Wein gegossen“. Er meinte damit, dass die Erlebnisberichte seine Vorstellungen erschüttert hätten. Es ist möglich, Denken und Moralvorstellungen zu verändern.

Wollten Sie das denn?
Nun ja. InWEnt verfolgt den Ansatz, dass ohne Aufklärung keine Vorbeugung von HIV/AIDS möglich ist. Und bekanntermaßen ist diese Krankheit ein enorm großes Problem in Afrika. Im Schnitt tragen laut UNAIDS-Daten in Afrika 7,2 Prozent der Erwachsenen den HI-Virus in ihrem Körper. Angesichts dieser Situation haben wir schon ein gewisses Sendungsbewusstsein. Hinzu kommt, dass die betroffenen Ländern in der Erklärung von Kairo darauf hingewiesen haben, dass Jugendliche Zugang zu Informationen und Dienstleistungen für reproduktive Gesundheit haben sollen. Streng genommen setzen wir diese Ideen der Regierungen nur um.

Welche Tipps geben Sie Leuten, die mit fremden Religionen zu tun haben?
Für alle Religionen gilt, dass man sich mit den Glaubensvorstellungen auseinandersetzen muss. Man muss sie akzeptieren, auch wenn man sie nicht teilt. Denn nur so kann man das Denken der Menschen verstehen. Das aber ist notwendig, wenn man mit ihnen konstruktiv zusammenarbeiten möchte. Religion ist in vielen Ländern ein wichtiger Aspekt des Lebens. Den Menschen in Niger beispielsweise ist Beten ein Grundbedürfnis. Deswegen werden bei Seminaren dort nicht nur Essens-, sondern auch Betpausen eingelegt.

Die Fragen stellte Claudia Isabel Rittel.

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