Bolivien

An einem Tisch

In Bolivien ist die Landfrage ein großes Konfliktthema. In einigen Regionen des Tieflands, wie etwa in der Region Chiquitanía, streiten sich Bauern, Indigene und Großgrundbesitzer um den Zugang zu Land und um politischen Einfluss. Angesichts der Probleme setzt Alcides Vadillo, Leiter des Regionalbüros der NGO „Fundación Tierra“, auf die Kraft des Dialogs.
„In der Region ­Chiquitanía streiten Bauern, Indigene und Großgrund­besitzer um den ­Zugang zu Land“: Bauern in der ­Chiquitanía  pflanzen ­Gemüse. Florian Kopp/imagebroker/Lineair „In der Region ­Chiquitanía streiten Bauern, Indigene und Großgrund­besitzer um den ­Zugang zu Land“: Bauern in der ­Chiquitanía pflanzen ­Gemüse.

Seit Jahren arbeitet die Fundación Tierra zum Thema Landverteilung im Landkreis San Ignacio de Velasco, nahe der Grenze zu Brasilien. Was genau ist das Ziel Ihrer Arbeit?
Die Fundación Tierra hat immer mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen gearbeitet – mit Bauern, Indi­genen und Migranten aus den Anden. Wir setzen uns für größere Gerechtigkeit bei der Landverteilung ein und für stärkere politische Beteiligung dieser länd­lichen und ausgegrenzten Gruppen, die hart gegen die Großgrundbesitzer zu kämpfen haben.

Die versprochenen Landreformen wurden bisher nicht komplett umgesetzt. Was waren die größten Schwierigkeiten in den letzten Jahren?
Nachdem Evo Morales im Jahr 2006 Präsident von Bolivien geworden ist, hat sich die Bevölkerung polarisiert. Konflikte entstanden zwischen Reich und Arm, zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem Hochland und dem Tiefland, zwischen dem fortschrittlich entwickelten und dem zurückgebliebenen Bolivien. Wir standen kurz vor einem Bürgerkrieg. Und die Landreform war eines der Themen, die für diese Polarisierung benutzt wurden: Sie berührt wirtschaftliche, ethnische und politische Interessen, sie mobilisiert Bevölkerungsgruppen und bringt sie gegeneinander auf.

Wie hat sich das in der Chiquitanía ausgewirkt?
Wir waren erschreckt zu sehen, wie einige Gruppen, etwa Bauerngewerkschaften, zu den Waffen griffen und mit Gewalt Ländereien besetzten. Oder Großgrundbesitzer, die Vertreter staatlicher Institutionen vertrieben und ihr Privateigentum auf nahezu militärische Weise verteidigten. Das wurde alles sehr gefährlich, und wir merkten, dass die Demokratie auf dem Spiel stand.

Im Gegensatz zu anderen Organisationen, die sich ebenfalls mit der Landfrage beschäftigen, hat die Fundación Tierra daraufhin ihre Arbeitsweise angepasst. Was haben Sie geändert?
Uns ist klar geworden, dass wir im Auftrag des Friedens arbeiten müssen. Dass wir nicht mehr Partei ergreifen dürfen, nicht mehr Akteur in diesem Konflikt sein dürfen – sondern dass wir den Dialog fördern müssen, um Gewalt zu verhindern. Die Stiftung hat eine tiefe demokratische Verwurzelung. Damals hatte auch gerade der Zivile Friedensdienst begonnen, unser Regionalbüro zu beraten. Er hat uns gezeigt, dass man über Dialog und Debatte das Thema auf demokratische und friedliche Weise angehen kann – und dass ein Dialogprozess nicht dazu dient, soziale Bewegungen auszubremsen oder die Diskussion hinauszuzögern.

Um solch einen Dialog einzuleiten, unterstützen Sie nun nicht mehr nur benachteiligte Gruppen, sondern reden mit allen Beteiligten. War das ein grundlegender Wandel in der Ausrichtung der Organisation?
Es war kein inhaltlicher Wandel, sondern ein tak­tischer. Wir treten nach wie vor für die Landreform ein, und wir sind auch immer noch für eine bessere und gerechtere Landverteilung. Wir versuchen aber zu verhindern, dass die Menschen diese Frage mit Gewalt zu lösen versuchen.

Was genau bedeutet Dialog für die Fundación Tierra?
Wir sehen Dialog als Prozess und nicht als Verhandlung. Wenn Sie in eine Verhandlung gehen, vertreten Sie dort eine Partei und ihre Forderungen. Bei einem Dialogprozess geht es darum, verschiedene Akteure an einen Tisch zu bringen, wo sie sich von Mensch zu Mensch gegenübertreten, nicht als Repräsentanten einer Gruppe oder einer Idee. Das baut Vorurteile und Ideologien ab. Statt sich über das große Ganze zu streiten, diskutiert man, was überhaupt möglich ist – und nur so kommt man voran. Wir erleben das gerade bei einem Dialogprozess in San Ignacio de Velasco. Allerdings geht es dabei nicht um die Landfrage, sondern um die Erstellung der „Carta Orgánica Municipal“, einer Art Landkreisordnung.

Wieso beginnen Sie nicht mit einem Projekt zum Landthema, das ist doch Ihr Schwerpunkt?
Zur Landfrage kann man derzeit noch keinen Dialog beginnen. Das Thema ist so konfliktgeladen, dass man die Beteiligten nicht an einen Tisch setzen und von Gerechtigkeit, Gleichheit oder Umverteilung sprechen kann. Jene, die Land brauchen, und jene, die das Land besitzen, stehen sich feindlich gegenüber. Außerdem handelt es sich bei dem Thema um ein Nullsummenspiel: Wenn man dem Einen Land gibt, muss man dem Anderen Land nehmen. Deshalb ist es besonders schwer, zu einer Einigung zu kommen.

Die Carta Orgánica Municipal aufzusetzen ist Lokalpolitik. Wie kam es dazu, dass Sie sich damit beschäftigen?
Das Landproblem ist eng verbunden mit dem Thema politische Partizipation. Landverteilung ist ein so großes Problem, weil ganze Teile der Bevölkerung politisch, sozial und wirtschaftlich ausgeschlossen sind. Die Carta Orgánica aufzusetzen heißt, die grundlegenden Regeln der Verwaltung wie den Aufbau der Kreisverwaltung oder die Kontroll- und Partizipationsverfahren festzulegen. Das erscheint uns sehr wichtig. Außerdem können wir mit der Erfahrung, die wir dabei machen, hinterher auch die Landfrage angehen. Die beteiligten Akteure sind fast dieselben.

Wie wurde der Dialogprozess zur Landkreisordnung in San Ignacio de Velasco begonnen?
Als die Kreisordnung erstellt werden sollte, forderten die verschiedenen Interessengruppen Mitsprache und baten uns um Unterstützung. Wir schlugen vor, einen Dialogprozess einzuleiten, und sie waren einverstanden. In den folgenden Monaten haben wir mit allen beteiligten Bevölkerungsgruppen und dem Kreistag gesprochen. Nach vielen langen Gesprächen hat Letzterer schließlich eine Kommission eingerichtet, in der Bauern und Indigene – zum ersten Mal in der Geschichte von San Ignacio de Velasco – vertreten waren und Stimmrecht hatten.

Damit konnten Sie einen ersten Erfolg ­verzeichnen.
Ja, aber es geht noch darüber hinaus. Wir glauben daran, dass solch ein Dialogprozess eine stärkere demokratische Kultur schafft. Eine Kultur, in der nicht mehr automatisch der Mann über die Frau entscheidet oder die reichen Großgrundbesitzer über die Geschicke der ganzen Gemeinde. Wir glauben, dass ein Dialogprozess, wenn er erfolgreich ist, sogar das Privatleben der Beteiligten verändert. Sie lernen, wie man mit Unterschieden umgeht, mit entgegengesetzten Interessen und wie man Gruppen zueinanderbringt, die in der Vergangenheit zerstritten waren.

Haben Sie einen solchen Mentalitätswechsel in San Ignacio de Velasco erreichen können?
Schon heute, nach zwei Jahren Arbeit, haben wir die Haltung der Menschen verändert. Das heißt nicht, dass es nun keine Konflikte mehr gibt. Aber es gibt ein Bewusstsein dafür, wie man Konflikte ohne Gewalt angehen kann. Für uns ist es sehr wichtig, dass der Dialog für die Menschen ein positives Erlebnis ist. Deshalb haben wir uns mit der Asociación de los Comités de Vigilancia del Departamento de Santa Cruz (Vereinigung der zivilgesellschaftlichen Kon­trollkomitees des Departements Santa Cruz) und dem Zivilen Friedensdienst der GIZ zusammengetan.

Was war für Sie besonders schwierig, als Sie mit der Arbeit begonnen haben?
Seit 2003 arbeiten wir in San Ignacio de Velasco als Berater der Indigenen. Es war nicht leicht für die Großgrundbesitzer, die Bürgervertretung und die Kreisverwaltung, uns nun als Vermittler oder Moderatoren im Dialogprozess zu akzeptieren. Der Widerstand dieser Gruppen hat uns aber gezeigt, wie wichtig es ist, nicht nur mit den Ausgeschlossenen, sondern auch mit den Ausschließenden zu arbeiten. Gleichzeitig brachte uns auf einmal auch die Indigenen-Organisation Misstrauen entgegen, denn sie sah, wie wir mit der Regierung und den Großgrundbesitzern sprachen.

Wenn die Interessen so unterschiedlich sind, ist es sicher schwer, alle Parteien zusammenzubringen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Wir haben gelernt, dass es sehr wichtig ist, klar und transparent gegenüber allen Beteiligten zu sein, mit einer Stimme und in einer Sprache zu sprechen. Anfangs haben sich beispielsweise die Großgrundbesitzer, die ja die politische und wirtschaftliche Macht in San Ignacio de Velasco haben, geweigert, die indigenen Gemeinden oder die Bewegung der Landlosen (Movimiento Sin Tierra) als Gesprächspartner zu akzeptieren. Sie fühlten sich bedroht. Das alles hat viel Zeit gekostet. Aber am Ende hat der Kreistag die Kommission gegründet, in der alle Gruppen vertreten sind. Dann hat allerdings die nationale Politik den Prozess erschwert.

Wie kann das sein – es ging doch um ein lokales Thema?
Die Interessen und Schachzüge der nationalen Politik beeinflussen auch die Lokalpolitik. Der Landrat wurde abgesetzt, Kreisräte ausgewechselt, und all das hat die Erstellung der Carta Orgánica Municipal verzögert. Das hat nicht die Erfolge zunichtegemacht, die wir auf individueller Ebene erreicht haben – einen Mentalitätswandel, eine Kultur des Friedens –, wohl aber die konkreten Ergebnisse. Und wir wollen doch zeigen, dass man mit Dialog etwas aufbauen kann! Dass man darüber ein Gesetz, eine Landkreisordnung aus­arbeiten kann, mit der mehr oder weniger alle einverstanden sind.

Ist San Ignacio de Velasco durch diesen Dialog friedlicher geworden?
Als wir mit dem Dialogprozess angefangen haben, gab es selbst zwischen Kleinbauern und Indigenen Konflikte. Die Indigenen aus der Region kämpften nicht nur gegen die Großgrundbesitzer, sondern auch gegen die Kleinbauern, die aus den Anden eingewandert sind. Durch den Dialogprozess haben sich diese beiden Gruppen einander angenähert und sogar von sich aus gemeinsame Aktionen geplant – das hat es vorher nicht gegeben. Auch die Großgrundbesitzer sind längst nicht mehr so gewaltbereit: Noch 2008 und 2009 hatten einige von ihnen paramilitärische Gruppen gebildet, die ihre Ländereien verteidigen sollten. Durch den Dialogprozess haben die Parteien sich nun kennengelernt, sie schätzen und akzeptieren sich.

Was denken die Leute in San Ignacio de Velasco heute von der Fundación Tierra?
Im Jahr 2008 gab es noch Gruppen, die uns aus der Region vertreiben wollten. Sie haben unser Büro besetzt und damit gedroht, es zu verbrennen. Heute dagegen sind wir eine der respektiertesten Organisationen in San Ignacio de Velasco. Wir werden von allen akzeptiert – von den Bürgern, der Kreisverwaltung, von der Subpräfektur – und ich glaube, dass alle in der Fundación Tierra eine positive Unterstützung für die Gemeinschaft sehen.

Das Interview führte Ursula Treffer.

 

Alcides Vadillo ist ein bolivianischer Anwalt, der auf Bodenrecht, Indigene und Landkonflikte spezialisiert ist. Er ist Regionaldirektor der NGO Fundación Tierra in Santa Cruz, Bolivien.
a.vadillo@ftierra.org

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