Migrationspotenziale

Triple-Win

Wir müssen die entwicklungspolitischen Potenziale von Migration besser nutzen, schreibt Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent­wicklung. Ziel ist ein Triple-Win mit positiven Effekten für die Migranten, die Herkunftsländer und uns.

Von Dirk Niebel

Der Begriff „Migration“ ist in vielen Köpfen negativ besetzt – zu Unrecht. Dass wir in den meisten Industrieländern künftig auf Zuwanderung angewiesen sein werden, ist eine Erkenntnis, die erst langsam reift. Viele Entwicklungsländer verzeichnen zwar Erfolge bei Bildung und Ausbildung, können aber nicht allen qualifizierten Menschen gute und angemessene Arbeitsplätze bieten. Einige hoffen, dass ihnen die reicheren Länder legale Zuwanderungsmöglichkeiten bieten, damit ein Teil ihrer Bürgerinnen und Bürger eine Zeitlang dort arbeiten kann. Ein- und Auswanderungen haben daher inzwischen in vielen Entwicklungsmodellen einen festen Platz.

Migration ist ein globales Phänomen und so alt wie die Menschheit selbst. Auch die Gründe, warum Menschen ihrer Heimat den Rücken kehren, sind damals wie heute kaum verändert. Oft ist existenzielle Not die Triebfeder. Menschen verlassen ihr Heimatland, weil sie keinen anderen Ausweg sehen, um Armut, Hunger oder Arbeitslosigkeit zu entkommen.

Sicher wird der Klimawandel als zusätzliche Ursache mehr und mehr hinzukommen. Häufig suchen Mi­granten aber auch einfach bessere Lebenschancen für sich und ihre Familien. Es gehört immer Mut dazu, den Weg in eine ungewisse Zukunft in einem fremden Land auf sich zu nehmen – aber die Migration birgt auch immer die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Daher nimmt das weltweite Wanderungsgeschehen zu und wird vielfältiger. Die Wanderungen von Entwicklungsländern in Industrieländer steigen weiter an, aber auch die Migration zwischen Entwicklungsländern gewinnt an Bedeutung. Und überall ist eine Zunahme von temporärer und zirkulärer, also wiederholter Migration und gleichzeitig eine Abnahme von dauerhafter Aus- und Einwanderung zu beobachten.

Verzerrte Wahrnehmung

Dennoch haben wir Migration bislang vor allem als Problem wahrgenommen. Erst allmählich setzt auch in Deutschland ein Umdenken ein. Die Konsequenzen sinkender Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung werden immer deutlicher: Der Handlungsspielraum in den sozialen Sicherungssystemen schrumpft, der Fachkräftemangel nimmt zu. Dabei bietet Migration – richtig gemacht – große Chancen für uns! Deshalb haben wir als Bundesregierung kürzlich eine Demografiestrategie verabschiedet, die deutlich macht, dass eine kluge und zielgerichtete Zuwanderungspolitik helfen kann, solche Engpässe zu beheben. Mit der Fachkräfteinitiative und der jüngsten Reform des Aufenthaltsgesetzes haben wir Deutschland weiter für qualifizierte Arbeitsmigranten geöffnet.

Diesen Wandel begrüße ich aus entwicklungspolitischer Sicht ausdrücklich. Wir sollten die Chancen von Migration, gerade von zirkulärer Migration, gemeinsam mit unseren Kooperationsländern nutzen. Natürlich muss es unsere erste Priorität sein, Menschen in ihren Herkunftsländern eine Perspektive zu bieten. Hier kann Entwicklungspolitik einen Beitrag leisten. Sie hat Einfluss darauf, wie hoch der Auswanderungsdruck für die Menschen in unseren Kooperationsländern ist. Es wäre aber naiv zu glauben, wir könnten Migration gänzlich verhindern – im Gegenteil: Es ist seit langem klar, dass Entwicklungsprozesse in der Regel zunächst zu mehr Migration führen, weil eben erst ein gewisser Entwicklungsstand Migration überhaupt ermöglicht. Darin liegt aber zugleich ihr Potenzial: Je höher nämlich der Entwicklungsstand, desto größer die Chancen für freiwillige und geregelte Migration – und die wiederum kommt sowohl den Ziel- als auch den Herkunftsländern zugute.

Zur Illustration sei eine eindrucksvolle Zahl genannt: Migranten haben im letzten Jahr rund 370 Mil­liarden Dollar an ihre Familien oder Freunde in Entwicklungsländern überwiesen – das ist fast das Dreifache der weltweiten ODA-Leistungen für Entwicklungszusammenarbeit! Diese Rücküberweisungen sind unmittelbare Armutsbekämpfung, oft fließen sie in die Ausbildung der Kinder oder in Existenzgründungen. Sie beeinflussen Entwicklung direkt positiv.

Die meisten Migranten halten Kontakt in ihre Herkunftsländer. Damit können sie wertvolle Mittler für unsere Arbeit sein. Oft übernehmen gerade Rückkehrer wichtige gesellschaftliche Aufgaben und bilden Scharniere zwischen den Kulturen, deren Potenzial wir in der Entwicklungszusammenarbeit gewinnbringend nutzen sollten.

Betroffene Frauen

Migration hat aber aus entwicklungspolitischer Sicht auch Schattenseiten: Sorgen sind weiterhin mit dem Thema Braindrain verbunden. Wir müssen uns in Deutschland immer auch fragen, welche Folgen das Werben um qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland für die Herkunftsländer hat, die diese qualifizierten Fachkräfte verlieren. Wenn dort dadurch zum Beispiel dringend benötigtes medizinisches Personal fehlen würde, dann müssten Industriestaaten auf eine aktive Anwerbung verzichten. Auch das gehört zu Politik­kohärenz für Entwicklung. Viele neuere Studien zeigen aber, dass es vor allem auf die Chancen der Fachkräfte auf dem jeweiligen heimischen Arbeitsmarkt ankommt. Sind sie schlecht oder gar nicht vorhanden, dann kann auch nicht von einem Braindrain gesprochen werden. Denn dann bleiben Potenziale ungenutzt, die für die Entwicklung des Landes wichtig wären.

Schwierig zu beantworten ist die Frage, welche Folgen Migration für das soziale Gefüge, für Familien und besonders für Frauen hat: Frauen tragen in besonderer Weise die Lasten von Migration, und Familien werden durch Migration oft stark belastet. Aber Migration geht eben oft auch mit einer Emanzipation der Frauen von tradierten Rollen einher und kann so mittelfristig auch zur Stärkung von Frauenrechten beitragen.

Wie können wir die Chancen von Migration bestmöglich für Entwicklung nutzen? Wichtig ist vor allem, dass Migrations- und entwicklungspolitische Ziele kohärent aufeinander abgestimmt werden. Wir müssen Migration so gestalten, dass sie den Migranten ebenso nutzt wie den Herkunfts- und den Aufnahmeländern – und zwar auch auf EU-Ebene. Hierfür gibt es gute Ansätze, insbesondere den „Globalen Ansatz für Migration und Mobilität“ und die EU-Mobilitätspartnerschaften.

Deutschland selbst verfügt über zahlreiche migrationsbezogene Entwicklungsinstrumente. Schon jetzt werden Geldtransfers von Migranten durch eine Internet-Seite erleichtert, entwicklungspolitische Aktivitäten von Migrantenorganisationen in ihren Herkunftsländern durch Förderprogramme unterstützt und Kooperationsländer migrationspolitisch beraten, wie zum Beispiel die Mongolei, Honduras oder Länder des westlichen Balkans.

Dennoch müssen wir bei der Gestaltung von Entwicklungsprojekten migrationspolitische Aspekte systematischer als bisher beachten. So sollten wir schon bei der Planung der bilateralen Zusammenarbeit immer auch das Migrationsgeschehen im betreffenden Land analysieren und sehen, ob und mit welchen Maßnahmen die entwicklungspolitischen Chancen dieser Migration gefördert werden können.

Wir haben in diesem Zusammenhang eine Studie zu den Potenzialen von Fachkräftemigration aus Nordafrika durchgeführt und dabei Fälle identifiziert, in denen Arbeitsmigration entwicklungspolitisch sinnvoll sein kann, weil die Fachkräfte keine angemessene Beschäftigung im Heimatland finden. Sie könnten aber in Deutschland zusätzliche Qualifika­tionen gewinnen, die sie für Arbeitgeber daheim ­attraktiv macht. Das gilt beispielsweise für Ingenieure aus Ägypten, Marokko und Tunesien. Solche Triple-Win-Situationen sind anspruchsvoll, aber möglich. Wir wollen sie suchen und ausweiten.

2013 wird im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein hochrangiger Dialog über internationale Migration und Entwicklung stattfinden. Wir werden auch auf dieser Ebene unsere Erfahrungen und Erkenntnisse in die Debatte einbringen, gerade mit Blick auf die künftige Gestaltung der Weltentwicklungsziele. Migration ist für viele ein schwieriges Thema, es ist aber eben auch eines, das wir nicht beiseite schieben dürfen. Nur wenn wir uns dem Thema stellen, haben wir die Möglichkeit, es aktiv zu gestalten und seine Chancen zu nutzen. Das lohnt sich, im Interesse der Migranten, im Interesse der Herkunftsländer – und eben auch in unserem eigenen Interesse.

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