Digitale Technik

„Es kommt auf unüberwachten Zugang an“

Payal Arora von der Erasmus-Universität Rotterdam weiß, dass sich digitale Chancen auch ohne Alphabetisierung oder Fremdsprachenkenntnisse ergreifen lassen. Im Interview mit Hans Dembowski ging sie auch auf Geschlechterdiskriminierung durch künstliche Intelligenz ein.
Eine Teenagerin in Bangladesch macht ein Selfie. picture-alliance/ZUMAPRESS.com/MD Mehedi Hasan Eine Teenagerin in Bangladesch macht ein Selfie.

Wie stärkt digitale Technik Frauenrechte?
Bekanntlich ist Technik weder gut noch schlecht. Sie kann der Stärkung von Frauenrechten dienen, aber auch der Unterdrückung von Frauen. Dass Frauen automatisch davon profitieren, wenn Technik und Bildung sich verbreiten, ist ein Trugschluss. Schädliche Traditionen wie die Mitgift in Südasien prägen das Mittelschichtsleben stark – trotz höherer Alphabetisierungsraten und insgesamt besserer Bildung. Patriarchale Gesellschaften und religiöse Institutionen können Trackingsysteme verwenden, um Frauen im öffentlichen Raum stärker zu kontrollieren. Andererseits nutzen Frauen digitale Räume zur Selbstverwirklichung, Professionalisierung, Vernetzung und Gemeinschaftsbildung. Die Frage ist, wie wir Technik so gestalten, dass sie Frauen und andere benachteiligte Gruppen stärkt, aber Schaden reduziert.

Wann dient digitale Technik denn feministischen Anliegen?
Netzwerke sind sehr wichtig. Frauen müssen sich mit Geschlechtsgenossinnen austauschen. Wir haben in Bangladesch geforscht, wo benachteiligte Frauen traditionelle Kleidung herstellen und mit ihrem Handwerk wertvolles kulturelles Erbe erhalten. Auf ihre Arbeit stützt sich ein recht lukratives Marktsegment. Die Frauen sind sehr arm und merken oft nicht, wie sie ausgebeutet werden. Im Zwischenhandel wird viel Geld verdient, aber die Produzentinnen bekommen nur wenig ab. Viele Betroffene sehen sich nicht als Arbeiterinnen. Sie denken, sie tun etwas für ihre Familie. Die Forschung zeigt, dass digitale Vernetzung ihr Selbstbewusstsein steigert und hilft, die eigene Lage zu verstehen. Sie teilen sich mit, wie sie bessere Verträge und Arbeitsbedingungen erreichen oder wie sie wichtige Informationen im Internet finden. Sie prüfen zum Beispiel, was ihre Waren in Souvenirshops kosten. So kann digitale Technik sehr hilfreich sein.

Welche Art von Bildung ist dafür nötig?
Formale Bildung wird im digitalen Alltag überbewertet. Menschen lernen voneinander und durch Herumspielen mit neuen Geräten in digitalen Räumen. Es hilft, wenn Apps für intuitive Nutzung gestaltet werden. Worauf es wirklich ankommt, ist unüberwachter und ungestörter Zugang zum Internet. In ganz Südasien sind arrangierte Ehen üblich. Sehr oft kontrolliert der Ehemann das Mobiltelefon seiner Frau. Sie darf kein geheimes Passwort haben, und er kann jederzeit in ihren Browserverlauf, ihre Social-Media-Einträge und ihre WhatsApp-Nachrichten schauen. Das führt zu Selbstzensur, welche die Möglichkeiten für Frauen stark einengt. Auch achtet die ganze Großfamilie darauf, was eine Frau online tut. Wenn sie beruflich ein Handy braucht, ändert sich aber einiges. Im besten Fall bekommt sie von Arbeit- oder Auftraggeber*in ein Gerät. Dass sie Geld verdient, erweitert in kleinen, aber wichtigen Schritten Freiräume – die sie dann nicht nur für engverstanden berufliche Dinge nutzt. Wir müssen den alten Spruch, dem zufolge das Private politisch ist, erweitern: Berufliches ist nämlich privat.

Ist die Lage in urbanen Gegenden besser, weil es dort mehr Erwerbschancen für Frauen gibt?
Nein, nicht unbedingt. Die Vorstellung, der ländliche Raum sei per se rückständig, muss überdacht werden. Das Dorfleben hat sich verändert – und viele Menschen, darunter auch Frauen, tragen zu Lieferketten und Dienstleistungen bei, die weit über ihre Dörfer hinausreichen. Die eben erwähnten Textilhandwerkerinnen in Bangladesch sind ein Beispiel. Ihre Heimarbeit dient weit entfernten Geschäften. Große Teile der Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen haben heute Mobilfunknetzwerke – und diese finden regen Anklang.

Aber die Leute müssen schon lesen können?
Lesen hilft, ist aber weniger wichtig, als Sie vermutlich denken. Audiovisuelle Apps sind weit verbreitet. Interessante Informationen sind auch so erhältlich. Sie müssen also auch nicht schreiben, um sich mitzuteilen. Viele Menschen, die kaum lesen können, können mit audiovisuellen Mitteln über viele Themen kommunizieren – und zwar mit großer Reichweite und Empathie, auch über kulturelle und staatliche Grenzen hinweg.

Was ist mit Sprachkenntnissen? Wenn Sie weder Englisch, Spanisch noch eine andere Weltsprache beherrschen, sind Sie von globaler Interaktion doch abgeschnitten.
Nein. Selbst wenn sie nur ihre Regionalsprache sprechen, empfinden junge Menschen in Südasien die digitale Sphäre als sehr befreiend. Sie können mit anderen kommunizieren, die ihre Sprache beherrschen. Frühere Generationen waren auf das eigene Dorf und vielleicht ein paar Nachbardörfer beschränkt. Möglicherweise fuhren sie auch manchmal in die nächstgelegene Kleinstadt. Das war es dann aber auch. Heute spielt der Ort keine Rolle mehr. Jugendliche in einem kleinen Dorf im indischen Bundesstaat Punjab können Freundschaften im gesamten Sprachraum schließen, zu dem auch die gleichnamige Provinz Pakistans gehört. Große Diasporagemeinschaften gibt es auch in Britannien, Kanada, Australien und andernorts. Das gilt ähnlich für andere asiatische, aber auch afrikanische Sprachen. Jugendliche bekommen traditionell wenig Aufmerksamkeit. Jetzt werden sie kreativ, um Anschluss – und vielleicht sogar ein Publikum – zu finden. Sie erfinden etwa einen witzigen Tanz und posten ihn auf TikTok. Unüberwachter Netzzugang gibt jungen Leuten neue Freiheiten, Dinge zu erproben und zu erforschen – und zwar trotz einengender kultureller Normen und obwohl sie argwöhnisch beobachtet werden.

Wenn es auf unkontrollierten Netzzugang ankommt, sind Teenagerinnen in den Dörfern vermutlich benachteiligt.
Das stimmt leider. Die ganze Familie macht sich Sorgen um den Ruf der Tochter, und angesichts der konservativen Normen, die in diesen Kontexten herrschen, ist das auch verständlich. Was werden die Leute in der Nachbarschaft sagen, wenn die Tochter auf einem Foto ein bisschen zu viel Schulter zeigt? Und was denken entfernt lebende Verwandte, wenn sie ein Foto von sich auf einem einsamen Strand postet? Was macht sie da? Wer passt auf sie auf? Selbst wenn eine Teenagerin ein eigenes, internetfähiges Handy hat, wird aufmerksam verfolgt, was sie auf sozialen Medien treibt. Und trotzdem haben diese jungen Mädchen heute mehr Möglichkeiten, als ihre Mütter sie hatten.

Ich halte soziale Medien für weniger frei, als generell angenommen wird. Die Algorithmen unterstützen gewohnte Narrative, halten Leute mit trivialer Unterhaltung oder auch Empörung möglichst lang auf einer Plattform und sind nicht für ernsthafte Debatten optimiert. Oft verbreiten sie auch populistische Propaganda. Ich finde, der digitale Raum braucht globale Regulierung.
Ja, es gibt echte Probleme, und deshalb ist globale Regulierung tatsächlich nötig. Trotzdem sollten Sie die Freiräume im Internet nicht unterschätzen. Viele individuelle Influencer haben eine erstaunlich große Gefolgschaft aufgebaut, und dafür müssen sie etwas Interessantes bieten. Sie können nicht nur gewohnte Narrative bedienen und gegen Bezahlung Waren bewerben. Beides kommt selbstverständlich vor, aber dann beginnt das Publikum auch schnell wegzubröckeln. Es gibt auch Influenzerinnen, und sie empfinden ihre Möglichkeiten sicherlich als befreiend.

Künstliche Intelligenz (KI) benachteiligt oft Frauen. Lässt sich das ändern?
Die Algorithmen spiegeln die Vorurteile wider, die in den Datensätzen stecken, mit denen sie trainiert werden. Die in der Vergangenheit gesammelten Daten dokumentieren patriarchale Haltungen. Auch sind westliche, gebildete, industrialisierte, reiche und demokratische Gesellschaften überrepräsentiert. Wenn Frauen und Mädchen unter gesellschaftlicher Diskriminierung leiden, schlägt sich das in den Datensätzen nieder und taucht dann auch wieder in Algorithmus-Empfehlungen auf. Wir können das Vergangene nicht ändern – aber wir müssen es auch nicht als Zukunft akzeptieren. Datensätze lassen sich ändern. Ich mache bei einem EU-finanzierten Projekt mit, das Diskriminierung in KI-unterstützten Personalabteilungen reduzieren soll. Es heißt FINDHR (Fairness and Intersectional Non-Discrimination in Human Recommendation). Wir stellen halbsynthetische Datensätze her, in denen beispielsweise Frauen mit dunkler Hautfarbe stärker vorkommen. Das ist eine Reaktion auf bekannte Fehlschläge wie das Debakel bei Amazon, wo die Software Männer für Spitzenjobs bevorzugte, weil Spitzenjobs ja meist männlich besetzt sind. Andere Datensätze führen vermutlich zu anderen Vorschlägen. Letztlich entscheiden Menschen über Arbeitsverträge, aber sie mögen KI-Unterstützung – und diese kann mit besserem Training besser werden.

Payal Arora ist Digital-Anthropologin und Professorin an der Erasmus School of Philosophy in Rotterdam.
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/payalarora
Twitter: @3Lmantra

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