Weltinformationsordnung

Haftung für Online-Kommunikation

Demokratie hängt davon ab, dass Wählerinnen und Wähler aufgrund von Fakten und evidenzbasierten Analysen entscheiden. Ein Menschenrecht auf zuverlässige Informationen wäre nützlich. Das mag utopisch klingen – wäre aber eine stimmige Antwort auf die Desinformation, die in sozialen Medien wuchert.
Algorithmen dienen Konzerninteressen: Firmenzentrale von Twitter in San Francisco. picture-alliance/AA/Tayfun Coskun Algorithmen dienen Konzerninteressen: Firmenzentrale von Twitter in San Francisco.

Globale Systeme der Wissensproduktion und -vermittlung sind nicht neutral. Länder mit hohen Einkommen prägen seit langem die international akzeptierten Normen der Wissensproduktion, der Qualitätskontrolle und Kommunikation (wie etwa Veröffentlichungskonventionen). Die angesehensten und am besten ausgerüsteten akademischen Institutionen sind meist in Nordamerika, Europa und Australien. Obendrein haben Spitzenleute dieser Institutionen besonders leichten Zugang zu international einflussreichen Massenmedien.

Entsprechend haben wissenschaftlich und journalistisch Tätige aus Nordamerika und Europa einen substanziell stärkeren Einfluss auf globale Debatten. Das hat Folgen darauf, ob ein globales Problem auch weltweite Aufmerksamkeit gewinnt oder doch regionalen Einrichtungen überlassen bleibt.

Die Weltinformationsordnung bleibt unausgewogen, wie unter anderem die Klimakrise zeigt. Länder am Äquator sind auf substanziell härtere Weise betroffen, denn ihre Erwerbssysteme hängen von Umwelt und Jahreszeiten (etwa für Landwirtschaft und Fischerei) ab. Die Hauptverursacher des Klimawandels nehmen ihre Sorgen aber nur begrenzt und (zu?) spät ernst.

In den 1970er- und 1980er-Jahren versuchte die UNESCO solche Dinge anzugehen. Anläufe eine – wie es damals hieß – „neue Weltinformationsordnung“ zu schaffen, führten nicht zu befriedigenden Ergebnissen. Wissensproduktion und -vermittlung blieben weitgehend das Privileg reicher Nationen. Es half, dass die Informationsflüsse, die sie generierten, vielfältig genug waren, um einem gewissen Maß an Pluralismus zu genügen, auch wenn von gleichberechtigter globaler Repräsentanz keine Rede sein konnte. Die Informationen war genügend evidenzbasiert, um Faktenprüfungen zu bestehen. Das bestehende System hatte klare Schwächen, aber staatlich kontrollierte Forschung und Medien aus der Sowjetunion und anderen Einparteienregimen hatten keine vergleichbare Glaubwürdigkeit.

Nach dem Fall der Berliner Mauer schwand das Interesse am Thema. Heute ist das wieder anders, denn die multilaterale Arena erscheint zunehmend fragmentiert – globalen Agenten wie etwa den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) zum Trotz. Erschwerend hinzu kommt der Rechtspopulismus, der typischerweise oligarchische Interessen stärkt und vielerorts die Demokratie bedroht – und zwar gerade auch in Ländern mit hohen Einkommen.

Global gelenkte Aufmerksamkeit

Obendrein hat sich globale Informationsvermittlung dramatisch verändert. Soziale Medien sind sehr wichtig geworden. Sie steuern in hohem Maß internationale Aufmerksamkeit und damit auch internationale Debatten. Leider sind sie dafür unge­eignet.

Sie helfen zwar Menschen mit hoher Medienkompetenz, aktuelle Entwicklungen zu verfolgen, setzen aber andere dem Risiko aus, auf Propaganda und Fake News hereinzufallen. Wer soziale Medien effektiv nutzen will, muss zuverlässige von unzuverlässigen Quellen unterscheiden und manche Fakten auch selbständig überprüfen können.

Herkömmliche Medien erfüllen ihre Aufgabe des Agenda-Settings nicht immer gut, aber sie bemühen sich in der Regel wenigstens darum. Glaubwürdigkeit ist nämlich für ihr Geschäftsmodell wichtig, und nationale Gesetze machen sie für manche Falschaussagen haftbar. Was in sozialen Medien passiert, ist dagegen auf kurzfristige Wirkung ausgerichtet und weitgehend ungeregelt. Accounts werden unter Pseudonymen geführt und Nachrichten frei erfunden. Haftung gibt es praktisch nicht.

Obendrein sind die großen Plattformen auf den Austausch von Individuen ausgerichtet und nicht auf institutionelle Kommunikation. Manche Personen mit hoher wissenschaftlicher oder journalistischer Kompetenz haben durchaus hohe Reichweiten, aber Institute und Zeitungen tun sich schwer. Meinungsmachende ohne echte professionelle Qualifikation finden derweil durchaus breiten Anklang. Wer Lügen verbreiten will, kann neue Social-Media-Adressen und Nachrichten frei erfinden. Die russische Internet Research Agency ist dafür bekannt, in industriellem Maßstab auf diese Weise Propaganda zu betreiben.

Zuverlässige Daten und Fakten

Eine demokratische Öffentlichkeit braucht auf der Basis zuverlässiger Daten und Fakten unzensierte Informationen und Meinungsfreiheit. Weder der Staat noch mächtige Interessengruppen dürfen Debatten kontrollieren oder verzerren.

Soziale Medien sind aber nicht so offen, wie sie auf den ersten Blick wirken, denn die Plattformen gehören oligopolistischen Konzernen. Oligopole entstehen grundsätzlich, wenn Güter oder Dienstleistungen Netzwerke erfordern. Die Plattformen erwecken zwar den Eindruck, die Algorithmen seien nur auf die Wünsche der Nutzenden ausgerichtet. Tatsächlich dienen sie aber Konzerninteressen. Deshalb reagieren Algorithmen auch auf bezahlte Werbung und nicht nur auf Publikumsgewohnheiten. Dass Kritik und Zweifel an sozialen Medien dort kaum Echo finden, ist kein Zufall.

Algorithmen sind sogar dazu programmiert, Publikumsgewohnheiten zu verändern, indem sie die Aufmerksamkeit möglichst auf der eigenen Plattform halten und nicht zum Zugriff auf gründlicher recherchierte Informationen anderswo ermutigen. Um Leute am Bildschirm zu halten, versorgen die Algorithmen sie kontinuierlich mit präferierten Narrativen – ohne viel Rücksicht auf Fakten und Evidenz. Es gibt Warnungen, der Zustand permanenter Aufgeregtheit mache psychisch abhängig. Belegt ist auch, dass der Strom immer extremerer Botschaften Individuen radikalisiert hat.

Selbst in Ländern mit hohen Einkommen bleibt die Regulierung sehr schwach. In den USA entscheiden die Plattformen weitestgehend selbst, in welchem Maß sie Inhalte moderieren. In der EU gibt es immerhin die Pflicht, Hassrhetorik innerhalb von 24 Stunden nach Meldung vom Netz zu nehmen. In beiden Rechtsräumen ist es aber legal, anonym demokratiegefährdende Lügen zu verbreiten.

Auf unserem ungleichen Planeten sind Probleme typischerweise in Ländern mit geringen Kapazitäten größer. Für afrikanische und asiatische Sprachen fällt Moderation von Inhalten weitgehend aus. Selbst Spanisch erhält weniger Aufmerksamkeit als Englisch. Beunruhigenderweise neigen Regierungen mit autoritären Tendenzen zudem dazu, soziale Medien entweder zu verbieten oder sie gefügig zu machen.

Die Rechte der Menschen, die die Plattform nutzen, spielen dann keine Rolle. Es stimmt natürlich, dass TikTok ein chinesisches Unternehmen ist und Telegram in Russland gestartet wurde und seinen Sitz in Dubai hat. Als korrigierende Gegengewichte zu Facebook, Twitter und Instagram sind sie aber ebenso nutzlos wie früher die sowjetische Nachrichtenagentur Tass im Vergleich zu Reuters oder AP.

Demokratie fördern

Demokratie ist heute weltweit bedroht, und die sozialen Medien tragen dazu bei. Wir brauchen so etwas wie ein Menschenrecht auf zuverlässige Information. Wie die UNESCO-Erfahrung mit der Diskussion über die neue Weltinformationsordnung lehrt, lässt sich das nicht schnell verwirklichen. Die Geschichte zeigt aber auch, dass das, was heute utopisch wirkt, morgen normal sein kann. Diese Idee ist verfolgenswert.

Regierungen, die beanspruchen, Demokratie zu fördern, sollten derweil soziale Medien nicht sich selbst überlassen. Zumindest müssen sie Haftungsregeln auf nationaler und möglichst auch supranationaler Ebene schaffen. EU-Normen entwickeln sich immer wieder zum internationalen Standard. Ihr neues Gesetz über digitale Dienstleistungen (DSA – Digital Services Act) geht viele Probleme an, führt aber keine vollständige Haftung ein und enthält auch keine strengen Regeln gegen potenzielle Radikalisierung durch inhaltliche Empfehlungen. Es handelt sich um komplexe Gesetzgebung, deren Wirkung auch von richterlichen Entscheidungen abhängt. 

Jedenfalls sollten Geberregierungen Partner dabei unterstützen, den virtuellen Raum sinnvoll zu regulieren. Forschungs- und Medienkapazitäten zu fördern, bleibt ebenfalls wichtig – und zwar besonders in Ländern mit niedrigen Einkommen.

Wenn die SDGs erreicht werden sollen, müssen Gesellschaften weltweit die großen globalen Herausforderungen verstehen. Lügenpropaganda muss entsprechend eingedämmt werden. Wer gegen Minderheiten hetzt, die Gefahren der Klimakrise herunterspielt und mit Verschwörungstheorien Angst macht, nutzt nicht einfach die Meinungsfreiheit, sondern gefährdet die Zukunft der Menschheit. Solche Leute müssen ihr Gesicht zeigen und für den Schaden, den sie anrichten, haften. Wir brauchen auch wirkungsvolle Strategien, um Lügenpropaganda mit gefährlichen Narrativen entgegenzuwirken.

Folglich sollten demokratische Regierungen ihre eigenen Medienstrategien überdenken. Bisher nutzen sie recht naiv soziale Medien. Die große Frage ist, ob ihre Präsenz auf bestimmten Plattformen diesen Plattformen unverdiente Legitimität beschert und ob das unter Umständen die zusätzliche Reichweite überwiegt. Die Menschheit braucht für globale Probleme globale Lösungen – der Rechtspopulismus lehnt aber schon die bloße Idee globaler Lösungen ab.

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C. Er hat das Manuskript auf der Basis eines längeren Gesprächs verfasst.
euz.editor@dandc.eu

Anna-Katharina Hornidge ist Direktorin von IDOS, dem German Institute of Development and Sustainability in Bonn.
https://twitter.com/annak_hornidge

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