Entwicklung und
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Demokratie

Was die Welt von afrikanischen Bewegungen lernen sollte

Von der Absetzung von Diktator*innen bis hin zur Infragestellung globaler Systeme – afrikanische Jugendbewegungen setzen Maßstäbe für Demokratien auf der ganzen Welt. Ihr Kampf um Würde und soziale Gerechtigkeit bietet einer mit antidemokratischen Regimen kämpfenden Welt wichtige Einsichten.
Die von Jugendlichen angeführten  Proteste in Madagaskar im Oktober zwangen Präsident Andry Rajoelina dazu, das Land zu verlassen. picture alliance/ASSOCIATED PRESS/Brian Inganga
Die von Jugendlichen angeführten Proteste in Madagaskar im Oktober zwangen Präsident Andry Rajoelina dazu, das Land zu verlassen.

Am 4. November gewann Zohran Mamdani die Bürgermeisterwahl in New York City mit einem historischen Sieg. Beobachter*innen aus westlichen Demokratien loben Mamdani gerne für seine kraftvollen Botschaften an die Wahlberechtigten – die mehr als 100.000 freiwilligen Wahlkampfhelfer*innen oder die lebendige Bürgerbewegung, die sie verkörpern, werden allerdings selten gewürdigt. Der Aufbau von Bewegungen spielt eine entscheidende Rolle für die Stärkung und den Erhalt von Demokratien. In Afrika verstehen wir uns darauf, Empörung und Verzweiflung in kollektives Handeln und organisierten Widerstand umzuwandeln.

Auf dem afrikanischen Kontinent gab es im 21. Jahrhundert zwei Wellen von Jugendbewegungen. Die erste kam von meiner Generation – den Millennials. Sie erstreckte sich grob auf den Zeitraum zwischen 2010 und 2020. Ich selbst wuchs in einer Diktatur auf und lebte 23 Jahre lang unter einem einzigen Präsidenten, bis Ende 2010 die Revolution in Tunesien begann. Ich war Teil der Jugendbewegung, die den Lauf der Geschichte veränderte und die Herrschaft von Präsident Ben Ali beendete.

Im Nachhinein behaupten nun manche, demokratische Übergänge seien „schlimmer“ gewesen als die Diktaturen, die sie ersetzt haben. Ich werde oft gefragt: War es das wert? Meine Antwort lautet immer: Ja. Veränderungen mögen schrittweise erfolgen, aber sie summieren sich. Demokratie bedeutet nicht nur Hoffnung, sondern auch Handlungsfähigkeit. Sobald Menschen ihre Angst überwinden, beginnen sie, ihre Kräfte zurückzugewinnen und Rechenschaft zu fordern. Ich finde, man kann nicht schweigen, nur weil man Angst hat, die Lage könnte sich verschlechtern – denn ohne eine Veränderung wird es ziemlich sicher so kommen. Seit 2010 gab es in ganz Afrika Tausende von Protesten; mindestens zehn Diktatoren wurden von durch Jugendliche angeführten Bewegungen gestürzt. Das waren nicht nur Proteste, sondern Regimewechsel.

Die zweite Welle von Jugendbewegungen wird seit etwa fünf Jahren von der Generation Z angeführt. Ihr Kampf ist nicht mehr als der alte Kampf zwischen Diktatur und Demokratie zu verstehen. Er konzentriert sich auf Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und die Frage, ob Regierungen im öffentlichen Interesse handeln. Diese neue Bewegung ist zunehmend antikolonialer Natur. Die Gen Z lehnt sich gegen das gesamte System auf, das koloniale Vermächtnisse aufrechterhält: Schuldenfallen des IWF, Währungssteuerungen wie beim CFA-Franc, die unvollendete Abschaffung der Apartheid und die tief verwurzelten Ungleichheiten von Slum-Wirtschaften. Ihr Widerstand richtet sich nicht nur gegen korrupte ältere Machthabende, sondern gegen ein System, das darauf ausgelegt ist, die afrikanischen Nationen abhängig zu halten.

In Kenia haben die Proteste der Gen Z in den letzten zwei Jahren ein vom IWF unterstütztes Finanzgesetz infrage gestellt und Transparenz sowie jugendorientierte Wirtschaftsreformen gefordert. In Madagaskar kam es kürzlich zu Demonstrationen als Reaktion auf chronische Versorgungsengpässe, hohe Arbeitslosigkeit und kollabierende Regierungsstrukturen. In Marokko haben sich dezentrale Netzwerke wie „Gen Z 212“ mobilisiert. Sie fordern Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen und die Priorisierung von Grundrechten vor Fußballstadien und Spektakeln.

Diese Jugendbewegungen bieten vier wichtige Lehren:

1. Die Macht des Volkes

In allen westlichen Demokratien, selbst unter progressiven Parteien, stehen derzeit Lebenshaltungskosten und Migration im Vordergrund. Die politische Debatte hat sich dahin verlagert, die Ängste der Wähler*innen zu verwalten, anstatt die kollektive Vorstellungskraft zu mobilisieren. Der Fokus liegt überwiegend auf Wahlverhalten, Umfragen und der Stimmung, aber es wird wenig Aufmerksamkeit auf Organisation gelegt: auf den Aufbau von Bewegungen, die die Demokratie über den Wahltag hinaus aufrechterhalten können.

Wo Institutionen schwach sind, sind es Bürger*innen und soziale Bewegungen, die die Machthabenden zur Rechenschaft ziehen. Doch statt daraus etwas zu lernen, definieren sich viele Demokratien inzwischen über Angst. Die USA und Europa beherrschen zunehmend ein Narrativ, das darauf abzielt, ein Feindbild zu identifizieren – jemanden, dem man die Schuld für wirtschaftliche Not oder politische Stagnation geben kann.

Aber wir brauchen keine Feindbilder. Politik kann nicht durch Sündenböcke aufrechterhalten, Demokratie nicht durch Angst verteidigt werden. Es sollte nicht darum gehen, Gegner*innen zu attackieren oder Bösewichte zu finden – das führt nur zu Polarisierung. Wir müssen die Politik des Opferdaseins hinter uns lassen, die ständigen Botschaften darüber, wen man fürchten, wen beschuldigen und wer schweigen soll. Dieser Kurs ruiniert jegliche Politik der Visionen. Wenn Demokratie auf Schuldzuweisungen und Klagen reduziert wird, werden die autoritären Mächte immer gewinnen. Unsere Aufgabe ist es, zu zeigen, dass Demokratie stärker ist, wenn sie die Menschen ermächtigt, und nicht, wenn sie Gegner*innen dämonisiert.

2. Demokratie muss Würde bieten

Für Wählende in westlichen Demokratien sind die Lebenshaltungskosten das wichtigste Thema, Wahlberechtigten in Afrika hingegen geht es um würdige Jobs. Der Slogan unserer Revolution in Tunesien war: „Arbeit, Freiheit und Würde“. Es ging um finanzielle Freiheit. Unsere Sorge gilt den mehr als 12 Millionen jungen Menschen, die jedes Jahr in Afrika ins Berufsleben eintreten, von denen aber nur wenige eine angemessene Arbeit finden. 2013 wurde mein eigener Bruder Adam von Daesh (Islamischer Staat) rekrutiert. Er war frischgebackener Ingenieur, ausgebildet wie die meisten Jugendlichen in Tunesien, wo die Alphabetisierungsrate unter den 15- bis 24-Jährigen bei über 95 % liegt, die Mehrheit jedoch arbeitslos ist. Er hatte Wissen. Aber er hatte keine Chance. 

Zugang zu Wissen ohne Zugang zu Chancen ist Zugang zu Frustration. Das passiert, wenn die Vorstellungskraft versagt. Wenn Demokratie keine Würde bietet, suchen junge Menschen anderswo nach Sinn. Dann tun wir überrascht, wenn junge Menschen rebellieren, ihre Länder verlassen, an Drogen oder in die Fänge bewaffneter Gruppen geraten oder auf der Suche nach echten Chancen im Mittelmeer sterben. Welche andere Wahl lassen wir ihnen denn?

Deshalb sollte es in unserem Kampf für Demokratie nicht nur um Stimmzettel und Verfassungen gehen. Es muss um Jobs, Freiheit und Würde gehen – darum, jungen Menschen etwas zu geben, an das sie glauben können, damit sie nicht jenen glauben, deren Versprechen Gewalt erfordern.

Wir müssen mehr sehen als das Wahlverhalten, das letztlich nur durch den politischen Diskurs geprägt ist. Es wirkt immer mehr so, als ginge es politischen Parteien nur darum, Wahlen zu gewinnen, statt sich für das Wohl der Menschen einzusetzen. Die Demokratie wurde ebenfalls auf die Vorstellung reduziert, dass es um Erfolge geht, statt um den Dienst für das Volk. Westliche demokratische Parteien sollten aufhören, auf rechtsextreme Narrative zu reagieren. Stattdessen sollten sie sich um die alltäglichen Probleme kümmern, die Leben, Arbeit, Wohnsituation, Bildung, Pflege und Hoffnungen der Menschen bestimmen.

3. Generationsübergreifende gemeinsame Führung

Es gibt eine Führungskrise, aber es gibt auch eine Repräsentationskrise von Frauen und jungen Menschen. Unsere Machthabenden in Afrika sind durchschnittlich etwa 63 Jahre alt – das Durchschnittsalter unserer Bevölkerung liegt allerdings bei unter 20 Jahren. Somit ist eine ganze Generation von der Macht ausgeschlossen. Die alte Garde, die patriarchalisch und isoliert bleibt, verlängert systematisch Rentenalter und Amtszeiten der Präsident*innen und reduziert so zugleich alle Chancen, dass neue Führungskräfte aufsteigen. 

Das ist nicht nur eine Generationskluft, sondern auch eine demokratische Blockade. Unsere Zukunft gestalten jene, die am wenigsten von ihr betroffen sind. Das Ergebnis ist eine Politik, die veraltet, männlich dominiert und losgelöst von den drängenden Realitäten unserer Zeit wie Klima, Arbeit, Technologie und Pflege ist.

Wenn niemand den jungen Menschen zuhört, gehen sie auf die Straße. Deshalb müssen wir mit Vorstellungskraft vorangehen und junge Menschen als Partner*innen, Innovator*innen und Mitgestaltende betrachten, nicht als Risiko, das es zu bewältigen gilt. Wahre Demokratie erfordert Erneuerung. Sie muss generationsübergreifend, feministisch und furchtlos genug sein, um Macht weiterzugeben.

Für Afrika und andere Weltgegenden bedeutet das: Wer die Demokratie unterstützen will, muss in progressive junge feministische Führungskräfte investieren, die bereits Alternativen aufbauen, statt in jene, die nur darauf warten, kaputte Systeme zu übernehmen.

Auf dem Nalafem-Gipfel 2024 in Windhoek, Namibia – einer generationenübergreifenden Plattform für Gender-Engagement in Afrika.

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4. Demokratische Initiativen weltweit unterstützen

Wir müssen gegen extreme Ungleichheit vorgehen. Laut dem aktuellen Oxfam-Bericht hat sich das Vermögen der fünf reichsten Männer in den letzten fünf Jahren verdoppelt, während das der 5 Milliarden ärmsten Menschen geschrumpft ist. Das Problem mit extremem Reichtum ist nicht, dass er dazu verwendet wird, Yachten und Villen zu kaufen, sondern dass er zum Kauf von Wahlen, Justiz und öffentlicher Meinung eingesetzt wird. Allein der Milliardär Elon Musk investierte mehr als 250 Millionen Dollar in die US-Wahlen 2024. Es spielt keine Rolle, ob in Afrika, Europa oder anderswo: Reiche Menschen gestalten Politik so, dass sie ihren Interessen dient. Extremer Reichtum kann die Demokratie manipulieren. 

Im letzten US-Wahlkampf gaben extrem reiche Familien 2,6 Milliarden Dollar aus, um Trump zurück ins Weiße Haus zu bringen, und doch scheint es die Menschen zu überraschen, dass überall die extreme Rechte gewinnt. Wenn die extreme Rechte Milliarden mobilisieren kann, um die Demokratie zu untergraben, warum ist es dann so schwierig, in diejenigen zu investieren, die für ihre Verteidigung kämpfen?

Tatsächlich wollen viele die Demokratie weltweit verbreiten, sind aber nicht bereit, jene, die sie verteidigen, finanziell zu unterstützen. Von Afrika wird erwartet, dass es sich bei großen globalen Konflikten auf die Seite der westlichen Demokratien stellt – aber wo sind die nachhaltigen Investitionen zum Aufbau demokratischen Vertrauens, ziviler Infrastruktur oder feministischer politischer Bewegungen? Wie kann man Solidarität erwarten, wenn man sie selbst nicht gepflegt hat?

Anfang Juli organisierten wir den Nalafem-Gipfel in Freetown, Sierra Leone, als Gegenveranstaltung zur Konferenz „Strengthening Families“ (Stärkung von Familien), einer rechtsextremen Veranstaltung, die von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gesponsert wurde und auf der Redner*innen aus anderen konservativen Netzwerken aus den USA versuchten, ihre Ideologie nach Afrika zu transportieren. Wir brachten mehr als hundert progressive weibliche Führungskräfte zusammen. Aber kein einziger Geldgeber aus den sogenannten progressiven Institutionen, die behaupten, die Demokratie zu verteidigen, hat uns unterstützt. Tatsächlich schulden wir unseren Lieferanten immer noch Geld.

Wir verteidigen demokratische Werte mit Defiziten, Schulden und Sparmaßnahmen. Wenn sich das nicht ändert, werden wir das Vertrauen in globale progressive Verantwortliche verlieren, die zwar das Richtige sagen, aber nicht bereit sind, ihren Worten auch Taten folgen zu lassen.
Wirklich global denken und handeln

Um unsere globale progressive Bewegung zu stärken, lade ich unsere Verbündeten in Europa und den USA ein, global zu denken und global zu handeln. Wenn wir über „global“ sprechen, konzentrieren wir uns immer noch auf die Ängste Europas und Amerikas hinsichtlich der Kontrolle von Migrationsströmen, anstatt die Ursachen anzugehen: Kriege, Klimakollaps, Schuldenkrisen und Versagen der Regierungsführung in anderen Teilen der Welt.

Allzu oft kommt der Westen immer noch nach Afrika, um Demokratie zu lehren. Aber vielleicht ist es heute der Westen, der lernen muss, wie man Demokratie verteidigt, wenn Institutionen schwach sind, die Ungleichheit groß ist und die Hoffnung selbst bedroht. Afrika kämpft diesen Kampf jeden Tag – und wir stehen immer noch.

Aya Chebbi ist eine panafrikanische Feministin, ehemalige Sonderbeauftragte der Afrikanischen Union für Jugendfragen und Gründerin von Nalafem, einem generationsübergreifenden Kollektiv, das die politische Führungsrolle von Frauen in ganz Afrika vorantreibt. 
hello@ayachebbi.com 
http://ayachebbi.com 

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