Indien

„Wir sind alle eins“

In Zeiten der religiösen Radikalisierungen treffen sich im Samkeesha Ashram bei dem Jesuitenpater Sebastian Painadath im indischen Bundesstaat Kerala Hindus, Muslime und Christen. Der Ashram dient ihnen als Dialogzentrum.
Statue des heiligen Thomas, der im Jahr 52 der Legende zufolge den christlichen Glauben nach Kerala brachte. Sean Sprague/Lineair Statue des heiligen Thomas, der im Jahr 52 der Legende zufolge den christlichen Glauben nach Kerala brachte.

In Kerala leben Angehörige verschiedener Religionen friedlich zusammen. Unter welchen Bedingungen funktioniert das?
Christen, Muslime, Buddhisten und Juden blicken in Kerala auf eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte zurück. Wir sprechen dieselbe Sprache, Malayalam. In unserer Geschichte gibt es Schrift­steller, Dichter und Politiker aus allen Religionen. Kooperation beruht auch auf wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Und die Kommunisten, die im Bundesstaat oft die Regierung gestellt haben, haben eine säkulare, sozialistische Denkart geschaffen. Auch das Kastensystem wurde hier früh infrage gestellt. Anfang des 20. Jahrhunderts hat der Sozialreformer Narayana Guru eine enorme Befreiungs­bewegung der unteren Kasten angeführt.

Was ist die Basis des Miteinanders in Indien?
Es ist unsere kulturelle Prägung. Die große Vielfalt an Sprachen und Kulturen zu akzeptieren und sogar zu bejahen ist ein Stück weit in unserer Psyche verankert. In Nordindien besuchen Hindus die Gräber von Sufi-Heiligen. In Südindien besuchen Hindus christliche Marienkirchen. Und in Kaschmir habe ich gesehen, dass Muslime auch zu Hinduheiligtümern pilgern. Ich finde es toll, dass die Menschen an der Basis meist recht friedlich zusammenleben. Oft sind es die theologischen Dogmen und die Politik, die Trennmauern zwischen den Religionen aufstellen.

Welche theologischen Dogmen trennen die Religionen?
Es sind die Dogmen der fundamentalistischen Vertreter aller Religionen, die Menschen an ihre Lehre ketten und behaupten, dass ihre Religion die einzig wahre ist. Sobald eine Religion versucht, die andere für sich zu gewinnen, wird es gefährlich. Und wenn empfindliche religiöse Gefühle verletzt werden, kommt es zu grausamen Reaktionen. Auf der christ­lichen Seite sorgen rechtsradikale Prediger, die in Orissa aggressive Missionspolitik betrieben und lautstark Hindugötter beschimpft haben, für Probleme. Andererseits verüben fundamentalistische muslimische Gruppen immer wieder Terroranschläge. Und auch unter den Hindus gibt es radikale und zum Teil gewaltbereite Gruppen, die in eigenen Flugblättern und Zeitungen einen alleinigen Hindustaat propagieren.


Den Hindunationalismus vertritt beispiels­weise Narendra Modi, der umstrittene Ministerpräsident von Gujarat. Missbraucht er den Glauben politisch?
Ja, das tut er, um Wählerstimmen zu gewinnen. In Gujarat ist er als Landesminister ein Idol der Modernisierung geworden, weil er die Wirtschaft zum Blühen gebracht hat. Aber er ließ 2002 den Mob bei gewaltsamen Unruhen zwischen Hindus und Moslems einfach gewähren. Nach offiziellen Schätzungen kamen dabei 2000 Menschen ums Leben. Die meisten waren Moslems. Modis Regierung wurde von Menschenrechtsgruppen Versagen vorgeworfen. Modi trat zunächst zurück, seine Partei, die hindufundamentalistische BJP, gewann aber anschließend die Wahlen. Er regiert Gujarat bis heute.


Was war der theologische Hintergrund des Konflikts?
Ich glaube nicht, dass es ein theologischer Konflikt war. Es war mehr ein Wirtschaftskonflikt. In vielen Gebieten von Gujarat waren Muslime die führenden Geschäftsleute. Die Partei von Modi wollte die Wirtschaftsmacht für sich haben und hat den Konflikt entzündet. Im Vorfeld ging es zwar um die Babri-Moschee in Ayodhya, die 1992 von radikalen Hindugruppen zerstört wurde, die behaupteten, es sei der Geburtsort des Hindugottes Rama. In der Folge gab es Mord und Totschlag in Indien, Pakistan und Bangladesch. Als zehn Jahre später in Gujarat ein Eisenbahnzug in Brand gesteckt wurde, nahmen Modis Leute dies als Anlass für Pogrome gegen Muslime, um die Wirtschaftsmacht in Gujarat an sich zu reißen.

Seit wann gibt es den Hindunationalismus in Indien?
In den 1920er Jahren entstand die politische Strömung, die den Hinduismus zur Grundlage der Nation machen will. Radikale Hindugruppen waren für die katastrophalen Konflikte zwischen Muslimen und Hindus in der Zeit der Unabhängigkeitsbewegung 1947/48 verantwortlich, in der Tausende von Menschen ums Leben kamen. Sogar Mahatma Gandhi wurde von einem Hindunationalisten ermordet, weil Gandhi dem Islam gegenüber zu offen eingestellt war. 1964 wurde der Vishwa Hindu Parishad (VHP) gegründet, und in seinem Umfeld entstand in den 70er Jahren die BJP, die der VHP weiterhin unterstützt. Der VHP betreibt Jugendgruppen, eine Gewerkschaft und andere Organisationen. Oft hetzen Mitglieder gegen Muslime. Seit einiger Zeit agitieren sie auch gegen christliche Einrichtungen. In Orissa zündeten fundamentalistische Hindus zu Weihnachten 2008 christliche Kirchen an und attackierten die Gemeinden.

Liegen die Ressentiments der Hindu­nationalisten auch an Sonderrechten für Minderheiten?
Es gibt Minderheitsprivilegien für Christen und Muslime. Wenn wir beispielsweise eine christliche Schule leiten, dann können wir die Lehrer aussuchen. Allerdings muss die Schule für alle Religionen offen sein. Das wird anerkannt, aber manchmal von der Hinduseite in Frage gestellt. Es gibt auch rechtliche Konzes­sionen für Muslime. Im Eherecht und im Frauenrecht haben Politiker den Muslimen Sonderrechte eingeräumt, um deren Wählerstimmen nicht zu verlieren.

Der Vormachtsanspruch der Hindus ist eigenartig. Der Hinduismus ist ja eigentlich eine tolerante Religion.
Das stimmt. Der Hinduismus ist tatsächlich sehr offen, tolerant und respektvoll im Umgang mit anderen Religionen. Der Hindunationalismus ist aber eine politische Form der Religiosität. Seine Anhänger behaupten, dass es nur ein hinduistisches Land auf der Erde gibt – Indien. Sie klagen, dass in diesem Land das Christentum dank aggressiver Missionsarbeit wachse. Sie behaupten auch, Indien werde von Muslimen überbevölkert  ...

...  weil muslimische Männer bis zu vier Frauen haben dürfen.
Ja, aber das ist offensichtlich Unfug. Die meisten muslimischen Männer haben nur eine Frau, und auch in dieser Minderheit ist nur etwa die Hälfte der Bevölkerung weiblich. Muslime werden aber systematisch als wirtschaftliche und politische Bedrohung dargestellt – und Christen als kulturelle und interna­tionale Bedrohung, weil sie sehr viel Unterstützung aus Europa und Amerika bekommen.

Warum treten manche Inder zum Christentum oder Islam über?
Kastenlose Hindus bekommen durch die Konvertierung zum Christentum oder Islam ein neues Selbstbewusstsein und neue soziale Freiheiten. Allerdings kommt man als Hindu nie ganz aus dem Kastensystem heraus, da das Kastensystem ein soziales und kein religiöses Phänomen ist. Manche der traditionell sozial hochgestellten Hindus fühlen sich aber bedroht. Das Kastensystem ist ja auch eine Art Unterdrückungssystem, das eine theologische Rechtfertigung von der Hinduseite bekommen hat: Weil du in deinem früheren Leben ein schlimmer Mensch warst, bist du jetzt in eine niedrigere Kaste hineingeboren worden. Solche religiösen Deutungen sind katastrophal, denn sie graben sich tief in die Psyche des Menschen ein.

Hat das Kastensystem denn Bestand?
In den Städten merkt man, dass das Kastensystem langsam bricht. Wer zu den unteren Kasten gehört, aber eine gute Ausbildung bekommt, kann sehr schnell aufsteigen. Wir hatten von 1997 bis 2002 sogar einen Bundespräsidenten, K. R. Narayanan, der aus der unteren Kaste kam. Das wäre ein paar Jahrzehnte früher noch undenkbar gewesen. In jeder staatlichen Einrichtung sowie in Schulen und Hochschulen werden zehn Prozent der Plätze für die Angehörigen der untersten Kasten reserviert. Der Staat verbietet auch, eine Schule nur für eine Kaste zu haben. Jede Schule muss für alle Kinder offen sein. Das hat einen großen Umbruch im Land bewirkt.

Wie wichtig ist das Kastensystem für die Hinduidentität?
Die Hinduidentität beruht theologisch eigentlich nicht auf dem Kastensystem. Das Wort „Hinduismus“ ist auch kein hinduistischer Begriff, er wurde von anderen für diese Glaubensrichtung geprägt. Die religiöse Grundlage ist aber „sanatana-dharma“, die „ewige Grundlage“. Es geht um eine ewige göttliche Harmonie oder Ordnung im Kosmos, der man sich öffnen muss. Das ist ein Prozess, und er erlaubt innerhalb der Hindutradition eine enorme spirituelle Freiheit. Das ist auch ein Hauptunterschied zum Christentum, das zahlreiche Begrenzungen und Dogmen in Glaubensdingen kennt, dafür aber mehr soziale Mobilität zulässt. Hier sehe ich die Chance für eine kreative Wechselwirkung zwischen Hinduismus und Christentum. In meinem Ashram schaffe ich diesen Raum für eine gegenseitige Bereicherung der Religionen.

Welche theologischen Konflikte diskutieren Sie in Ihrem Ashram?
Als theologisches Konfliktthema zwischen Hindus und Christen wird immer die Wiedergeburt postuliert, aber das ist bei uns gar kein Diskussionsthema. Wir sagen einfach, die Christen glauben an ein Leben und die Hindus glauben an mehrfache Leben. Hindus sind theologisch sehr offen, es ist okay, wenn Muslime nur an einen Gott glauben, an Allah. Andererseits können die monotheistischen Muslime weder die vielen hinduistischen Göttergestalten bejahen noch christliche Heiligenfiguren. Die Christen gehen von der Dreifaltigkeit aus. Aber das lässt man dann so stehen. Wir tolerieren die Unterschiede und sagen, das ist einfach eine andere Denkart. Unser gemeinsamer Nenner ist, dass wir auf verschiedene Weisen versuchen, das unfassbare Geheimnis des Göttlichen ein Stück fassbar zu machen. „Ekam sat, vipra bahudha vadanti – das Göttliche ist das Eine, man spricht darüber mit vielen Namen“ – diese Aussage der Rig Veda (1200 vor Christus) ist der Herzschlag der indischen Geisteshaltung. Egal wie du das Göttliche nennst, Vater, Allah oder Shiva, es bleibt immer unfassbar. Wir treffen uns in unserem Staunen vor dem Göttlichen.

Wie sieht der interreligiöse Dialog in Ihrem Ashram aus?
Wir fokussieren uns auf unsere gemeinsamen Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friede, Engagement für die Armen und für die Bewahrung der Schöpfung – also auf unsere gemeinsame Suche nach Harmonie. Diese Werte setzen wir praktisch um. Wir haben ökologische Kreise, in denen wir uns gemeinsam für den Wald, den Fluss oder die Sauberkeit der Stadt einsetzen. Wir fragen uns: Was motiviert mich als Christ, Hindu oder Muslim, mich für die Erde einzusetzen? Es gibt gemeinsame Gebete, um klarzumachen, dass wir letztendlich alle den gleichen Gott anbeten. Die Gebete der anderen Religionen zu achten, das ist eine sehr authentische Form des Dialoges. Beim Beten meldet sich der Glaube im tiefsten Sinne. In meinem Ashram fühlen sich die Menschen aus den verschiedenen Religionen angenommen. Hier ist ein Ort, wo wir uns über alle Grenzen hinweg austauschen können. Gerade in der Spiritualität treffen sich die Religionen. Auf einer mystischen Ebene sind wir alle eins. Die Fragen stellte Sophie Appl.

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