Informeller Sektor
Frauen in Indiens informellem Sektor erkämpfen sich bessere Arbeitsbedingungen

Überall in Indien beginnen Millionen von Frauen ihren Tag schon vor dem Morgengrauen. Sie stellen ihre Waren bereit, bestellen Felder oder bauen Marktstände auf. Obwohl sie viele Stunden arbeiten, verdienen sie kaum genug, um ihre Familien zu ernähren. In Indien sind fast 90 Prozent der Erwerbstätigen informell beschäftigt. Sie sind das Rückgrat der indischen Wirtschaft – und bleiben doch unsichtbar und ungehört.
Da sie nicht bei den Behörden gemeldet sind, erhalten sie auch keine staatliche Unterstützung wie Krankenversicherung oder Mutterschaftsgeld. Banken nehmen sie nicht gern als Kundinnen auf, und so sind informell Erwerbstätige, wenn sie eine Finanzierung benötigen, auf ausbeuterische Geldverleiher angewiesen. Der Klimawandel verschärft ihre Probleme noch zusätzlich – unregelmäßige Monsunregen, Überschwemmungen und extreme Hitze gefährden ihr Geschäft und ihre Lebensgrundlage. Sie leben in einem Land, in dem es Arbeitskräfte im Überfluss gibt, Beschäftigungsmöglichkeiten aber rar sind.
Dennoch ist die Geschichte der Frauen, die im informellen Sektor Indiens arbeiten, nicht nur eine von wirtschaftlichen Schwierigkeiten: Sie ist auch eine Geschichte von Mut, Widerstand, Einigkeit und Entschlossenheit. Seit mehr als 50 Jahren schließen sich Frauen zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen. 1972 gründete die Anwältin und Gewerkschafterin Ela Bhatt die „Self Employed Women’s Association“ (SEWA). Sie ist zu einer großen Bewegung selbstständiger Frauen in der informellen Wirtschaft geworden. Heute hat SEWA über 3,2 Millionen Mitglieder in 18 indischen Bundesstaaten sowie eine wachsende Basis in den Nachbarländern Bhutan, Sri Lanka und Nepal. Ihr Ziel: Gemeinsam ihre Zukunft neu zu gestalten, indem sie sich für Arbeitsrechte, sichere Einnahmen und Klimaresilienz einsetzen.
Das Geheimnis des Erfolgs ist kollektives Handeln
Alle SEWA-Aktivitäten sind von gemeinschaftlichem Handeln geprägt. Frauen aus ähnlichen Branchen und Orten schließen sich in Kollektiven zusammen, damit sie effektiver für ihre Rechte eintreten können. Als Kollektiv haben sie eine stärkere Stimme, um sich an die Politik zu wenden oder Unterstützung von Spender*innen und Unterstützer*innen einzufordern.
SEWA erhält Mittel von indischen und internationalen Gebern, ist aber auch auf die Mitgliedsbeiträge der beteiligten Frauen angewiesen. Wofür das Geld ausgegeben wird, entscheiden die Frauen selbst. Die lokalen Gruppen identifizieren die Probleme, die sie am meisten beeinträchtigen, und werden aktiv.
Die Themen der SEWA-Aktionen sind so unterschiedlich wie ihre Mitglieder. Dennoch muss jede Initiative an einigen übergeordneten Prinzipien ausgerichtet sein: Sie muss darauf abzielen, die Beschäftigungsmöglichkeiten, Einkommen oder das Eigentum von Frauen abzusichern oder zu vergrößern sowie den Zugang zu Nahrung, Gesundheitsfürsorge, Kinderbetreuung und sanitären Einrichtungen zu sichern oder zu verbessern. Die Projekte sollen das Kollektiv stärken, Bildung und Führungsqualitäten der Frauen ausbauen und ihre Unabhängigkeit sichern.
Eine der jüngsten Initiativen von SEWA heißt „Pakki Bheet“ („solide Ziegelsteinwand“). Im August 2024 hatten starke Regenfälle zu massiven Überschwemmungen in der Provinz Gujarat geführt. Dutzende Menschen starben, Zehntausende mussten evakuiert werden. Da viele SEWA-Mitglieder ihre Häuser verloren hatten, rief die Organisation ein Unterstützungsprogramm ins Leben: SEWA ermöglichte ihren Mitgliedern dauerhaften und erschwinglichen Wohnraum unter einer Bedingung – im Grundbuch sollte das jeweilige SEWA-Mitglied selbst als Besitzerin eingetragen sein, nicht ein anderes männliches Familienmitglied.
Das Programm wurde von der Regierung des Bundesstaats Gujarat finanziert. SEWA beauftragte Architekt*innen und Bauexpert*innen mit der Planung der Häuser, außerdem schulte sie die interessierten SEWA-Mitglieder in Maurer-, Bau-, Klempner- und Tischlerarbeiten, sodass sie ihre Häuser selbst bauen konnten. Daraufhin haben sich Frauen in den besonders betroffenen Distrikten Surendranagar und Kutch rund 6000 neue Häuser gebaut. Einige der Frauen haben ihre neuen Fertigkeiten sogar zu ihrem Job gemacht: Sie arbeiten nun als Maurerinnen, Klempnerinnen oder Tischlerinnen und bieten ihre Dienstleistungen in den Dörfern in der Umgebung an.
Die SEWA-Gemeinschaft setzt sich seit Jahrzehnten für eine Form des Minimaleinkommens für informell Beschäftigte ein, da viele von ihnen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. In so unterschiedlichen Arbeitsbereichen wie Hausarbeit, Landwirtschaft und Bauwesen können gemeinsame Lohnverhandlungen etwas bewirken. Die SEWA-Mitglieder versuchen auch, gemeinsam die Preisgestaltung auf den lokalen Märkten zu beeinflussen oder sich für Mindeststückpreise einzusetzen. Darüber hinaus bemühen sie sich um den Aufbau sozialer Sicherungssysteme. So bieten einige Kooperativen ganztägige Kinderbetreuung für Fabrik- und Landarbeiterinnen an. Diese wird von Frauen aus dem Ort betrieben und durch Spenden aus der Gemeinde sowie staatliche und private Zuschüsse finanziert. Andere Gruppen haben lokale Gesundheitszentren eingerichtet. Dort bieten Frauen, die zuvor in nahegelegenen Krankenhäusern Grundlagen wie Blutdruck-, Fieber- und Vitalzeichenmessung erlernt haben, medizinische Basisleistungen an.
Im Jahr 1974 gründeten etwa 4000 SEWA-Mitglieder die Shri Mahila SEWA Sahakari Bank. Sie bietet Kredite und Bankdienstleistungen zu günstigeren Zinssätzen an. Da es für informell Erwerbstätige schwierig ist, Unterstützung von regulären Banken zu erhalten, müssen sie oft auf Geldverleiher zurückgreifen, die extrem hohe Zinssätze verlangen.
Darüber hinaus haben SEWA-Mitglieder eigene Unternehmen gegründet, die ihnen den Marktzugang erleichtern. So gründeten beispielsweise in den 1990er-Jahren mehr als 30.000 Abfallsammlerinnen in der Stadt Ahmedabad eine lokale Genossenschaft und wenige Jahre später, 1995, die Shri Gitanjali Mahila SEWA Industrial Stationery Producers Cooperative Ltd. Das Unternehmen gehört seinen Mitgliedern und wird von ihnen geführt. Es stellt Schreibwaren aus recyceltem Abfall her, die von den Mitgliedern des Kollektivs, allesamt lokale Abfallsammlerinnen, gesammelt wurden. Ein anderes Beispiel ist RUDI, ebenfalls ein gemeinschaftlich geführtes Unternehmen, dessen Verkäuferinnen die Produkte von Kleinbäuerinnen vertreiben.
Das drängendste Problem: sich vor dem Klimawandel schützen
Anlässlich des 50-jährigen Gründungsjubiläums von SEWA im Jahr 2022 beschlossen die SEWA-Mitglieder gemeinsam, sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Gesundheit, ihren Lebensunterhalt, ihre Ernährung und ihr Wohlergehen auseinanderzusetzen. Sie starteten die Kampagne Swach Aaakash („saubere Himmel“), um sich an den Klimawandel anzupassen und Klimarisiken zu verringern. So haben einige Frauen begonnen, grüne Technologien wie Biogasanlagen und Kühldächer zu installieren – als Teil der „Hariyali Gram“-Initiative („Grüne Dörfer“) –, während andere auf regenerative Landwirtschaft umschwenken, Bodensanierung betreiben und organische Düngemittel einsetzen. Diese Initiative heißt „Kheti Jhumbesh“ („Landwirtschaft“).
Darüber hinaus haben sie zwei Mikroversicherungsprogramme ins Leben gerufen: Der „Livelihood Recovery and Resilience Fund“ bietet Finanzierungslösungen für die Anpassung an und Minderung von Klimarisiken, während die „Extreme Heat Income Microinsurance“ die versicherten SEWA-Mitglieder mit einem Tageslohn entschädigt, wenn die Temperaturen einen bestimmten Schwellenwert überschreiten. Beides sind parametrische Versicherungen: Die Versicherten müssen keinen Antrag stellen, um eine Zahlung zu erhalten. Jede versicherte Frau zahlt jährlich einen kleinen Betrag ein und erhält automatisch direkte Bargeldhilfe, wenn die Temperaturen steigen oder Naturkatastrophen eintreten. Die Versicherungsprogramme sind schnell gewachsen: 2024 waren bereits 50.000 informell Beschäftigte versichert, darunter unter anderem Bäuerinnen und Müllsammlerinnen.
Self Employed Women’s Association (SEWA) ist eine Gewerkschaft für Frauen, die in Indiens informellem Sektor arbeiten.
mail@sewa.org