Editorial

Sozialer Aufstieg

Unter den Entwicklungsökonomen sind Abhijit Banerjee and Esther Duflo (Foto auf der Titelseite) die neuen Stars. Beide sind Professoren am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er hat seinen ersten Abschluss an der University of Calcutta gemacht, sie an der École Normale Supérieur in Paris. Am MIT haben sie die Armutsforschung neu erfunden: Sie messen die Wirkung kleiner Interventionen in benachteiligten Gemeinschaften und vergleichen die Ergebnisse dann mit Daten ähnlicher Gruppen ohne Intervention. Sie wollen verstehen, wie arme Menschen entscheiden und wie ihnen geholfen werden kann, ihre Lage zu verbessern.

Von Hans Dembowski

2011 veröffentlichte das Paar das Buch „Poor Economics“. Es greift interessante Themen auf. Auf empirischer Basis wird zum Beispiel ausgeführt, dass Mikrokredite einerseits armen Menschen helfen, ihre knappen Mittel zu managen, dass Mikrofinanzprogramme aber nicht risikofreundlich genug konzipiert sind, um das Entstehen starker mittelständischer Firmen zu fördern. Banerjee und Duflo meinen, die eigentliche Herausforderung sei heute, Finanzkonzepte zu finden, die mehr als Mikrounternehmungen ermöglichen. Das ist plausibler als die Lobhudelei, die lange Zeit Mikrokredite als Allheilmittel gegen Armut pries – und plausibler als die vernichtenden Urteile, die nach dem Ausbruch der Mi­krofinanzkrise in Indien vor zwei Jahren üblich wurden.

Wissenschaftler müssen sich auf ihr Gebiet konzentrieren. Die beiden MIT-Professoren haben denn auch wenig zu Makroökonomie, Justizreform oder Klimawandel zu sagen. Sie müssen auch nicht auf alles eine Antwort haben, um exzellente Wissenschaftler zu sein. Ihre Arbeit ist in vieler Hinsicht vorbildlich:
– Sie beruht auf empirischen Daten und verbessert bestehende Theorien.
– Sie führt zu neuen Einsichten über menschliches Leben.
– Sie bietet Rat für Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft.
– Sie untersucht soziale Probleme ohne an nationalen Grenzen Halt zu machen.
– Sie stützt sich auf ein weltweites Forschungsnetzwerk unter Einschluss vieler Institute in Entwicklungsländern.
– Sie stellt gewohntes Wissen in Frage und lädt zu kritischem Denken ein.

Aus diesen Gründen ist Wissenschaft für Entwicklung relevant. Akademische Freiheit ist die Wurzel der Bürgerrechte, denn demokratische Entscheidungsfindung braucht den rationalen Diskurs, der nirgends so systematisch gepflegt wird wie an Hochschulen. Es ist kein Zufall, dass soziale Bewegungen oft von Universitäten ausgehen und meist intellektuell kompetente Führungspersönlichkeiten brauchen.

Es geht um noch mehr. Aufstiegschancen haben in den reichen Nationen seit mehr als 100 Jahren viel mit Hochschulbildung zu tun. Im großen Stil begann das, als wissenschaftsbasierte Industriezweige wie Chemie und Elektrotechnik Ende des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Branchen aufstiegen. Die Bedeutung akademischen Lernens nimmt im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft derweil weiter zu.

Auch in den Entwicklungsländern wissen die Menschen, dass Berufs- und Karrierechancen vom Ausbildungsniveau abhängen. Viele sind bereit, Studiengebühren zu zahlen. Noch mehr sind dafür zu arm. Deshalb protestieren Stu­denten in Chile und anderen Ländern Lateinamerikas seit einiger Zeit für freien oder zumindest leichteren Zugang zu Hochschulen. Der Staat muss für breiten Zugang zu den Hochschulen sorgen – aber nicht zulasten der Qualität.

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