Mikrofinanz

„Lokale Verankerung“

Das Mikrofinanzwesen ist in den vergangenen 20 Jahren rasant gewachsen. Im Interview mit Hans Dembowski erörtert Hans Dieter Seibel, Vorstandsmitglied der European Microfinance Platform, Ziele, Trends und historische Wurzeln.


[ Interview mit Hans Dieter Seibel ]

Was unterscheidet Mikrofinanzinstitutionen von regulären Geschäftsbanken?
Eigentlich sollte es gar keinen Unterschied geben, zumindest was die Prinzipien der Banktätigkeit angeht. Spezifisch für Mikrofinanzinstitutionen – oder kurz MFIs – ist aber sicherlich die Zielgruppe. Sie wollen in Entwicklungsländern die Menschen erreichen, die keinen Zugang zur etablierten Finanzwirtschaft haben, also die große Masse der einfachen Leute.

Warum fehlt diesen Menschen der Zugang dazu?
Um das zu verstehen, müssen Sie die Geschichte kennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den USA darum, Westeuropa schnell wieder aufzubauen. Deshalb wurde 1944 die mulitlaterale Weltbank gegründet. Kurz nach dem Krieg entstand dann in Westdeutschland die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die heutige KfW Bankengruppe. Diese Institute dienten dazu, Kapital zu transferieren, und es gelang ihnen sehr schnell, die Wirtschaft in Schwung zu bringen. Schon 1953 – also nur fünf Jahre nach der Währungsreform – brauchte Westdeutschland die ersten Gastarbeiter. Weil die Strategie des Kapitaltransfers in Europa so gut funktioniert hatte, versuchte man sie dann auch in der Entwicklungspolitik – leider mit verheerenden Folgen.

Was ging schief?
Der Grundfehler war zu glauben, Entwicklung lasse sich wie Wiederaufbau bewerkstelligen. Dabei geht es um etwas ganz anderes und schwierigeres. Die Vorstellung, Entwicklungsländer bräuchten in erster Linie Kapital, das ihre Banken dann sinnvoll verteilen würden, führte dazu, dass gar nicht ernsthaft versucht wurde, Kapital in den Ländern selbst zu mobilisieren. Zudem gab es kaum private Finanzinstitute, also verteilten Staatsbanken das Geld. Aus politischen Gründen wurden für Kredite zu niedrige Zinsen verlangt oder auch einfach Schulden erlassen. Mittel flossen für große Prestigeprojekte, aber nicht, um einen breiten Mittelstand aufzubauen. Grob vereinfacht würde ich sagen, dass die Finanzsysteme der meisten Entwicklungsländer ihre eigentliche Funktion nie erfüllt haben. Sie haben es versäumt, Ersparnisse zu mobilisieren, um damit lokale Investitionen zu ermöglichen und so eine selbstragende Wirtschaftsentwicklung in Gang zu setzen.

Aber in armen Ländern gibt es doch kein Kapital, das sich einfach mobilisieren ließe.
Diese Annahme liegt nahe, aber sie ist falsch. Seit Menschengedenken wurde immer gespart – und es kommt darauf an, dieses Potenzial zu nutzen. Betrachten Sie die deutsche Geschichte: Unsere Sparkassen und Genossenschaftsbanken spielen wirtschaftlich immer noch eine große Rolle, und sie gehen auf karitative Anstrengungen zurück. Dynamisch wurden beide Modelle, als sie im Verlauf des 19. Jahrhundert begannen, Ersparnisse einzusammeln und diese für Kredite zur Verfügung zu stellen, wie ich 2003 beschrieben habe. Das fand rasch internationale Verbreitung. Erfolgreiche Genossenschaftsbanken gab es auch in Kolonien wie Indien oder Indonesien. Aber nach der Unabhängigkeit gingen sie meist an staatlicher Einflussnahme kaputt. Das geschah bestimmt nicht aus böser Absicht – aber als Finanzdienstleister für die breite Masse fielen sie aus.

Und in diese Lücke stoßen die MFIs?
Genau. Seit den 70er Jahren ist zu beobachten, dass nichtstaatliche Organisationen mit Krediten arbeiten. Neu war zunächst auch, dass sie gezielt Armut bekämpfen wollten. Oft fanden sie Unterstützung von karitativen Organisationen aus reichen Ländern, und bald waren auch staatliche Institutionen der Entwicklungspolitik mit von der Partie. Die Anbieter von Mikrokrediten mussten sich refinanzieren und brauchten Gebermittel. Im nächsten Schritt entschieden sich einige, Sparkonten einzurichten, um weniger abhängig zu werden. In Ihrem letzten Heft habe ich zusammen mit Ketut Nurcahya Beispiele aus Bali geschildert. In den 90er Jahren setzte sich dann allmählich der Begriff Microfinance durch, den ich auf einer Konferenz vorgeschlagen hatte, weil es eben wirklich nicht nur um Kredite geht.

In der öffentlichen Wahrnehmung, zumindest in Deutschland, stehen Mikrokredite aber immer noch im Vordergrund.
Das liegt daran, dass Muhammad Yunus mit seiner Grameen Bank sehr viel Aufmerksamkeit gewonnen hat.

Die Grameen Bank macht aber doch in vieler Hinsicht eher gute Sozialarbeit, als dass sie ein klassischer Finanzdienstleister wäre. Sie definiert die Rolle von Frauen in muslimisch geprägten Dörfern um. Sie organisiert sie in Gruppen, betont Schulbildung und lässt Eide gegen Mitgiftzahlungen ablegen. Das kam mir bei meinen Recherchen in Bangladesch in den frühen 90er Jahren wichtiger vor, als das Geldgeschäft selbst.
Ich weiß,was Sie meinen, und die Arbeit der Grameen Bank mit Frauen war und ist in der Tat sozialrevolutionär. Dennoch widerspreche ich Ihnen. Das Gruppenmodell ist im Kern kein sozialpädagogisches Konzept. Es ist finanzwirtschaftlich sinnvoll, weil es die Transaktions- und Verwaltungskosten senkt. Bei sehr armen Menschen fallen eben immer nur minimale Beträge an, und wenn Sie mit Gruppen von fünf Klienten beispielsweise arbeiten, verteilt sich der Aufwand entsprechend. Deshalb ist das Gruppenmodell auch sehr weit verbreitet. Wenn aber dann einmal die elementarste Not überwunden ist, wächst das Bedürfnis nach individuellen Finanzdienstleistungen. Die Kunden wollen auch nicht mehr für andere bürgen. Auch die Grameen Bank hat sich weiterentwickelt und ähnelt heute viel mehr als früher dem, was wir in Deutschland als Sparkasse kennen. Das ist kaum bekannt, aber David Hulme hat das 2008 sehr schön zusammengefasst.

Und das ist das Ziel, das Sie propagieren?
Ja, denn dezentrale, selbst-tragende Finanzinstitute sind für die wirtschaftliche Entwicklung – und folglich auch für die Armutsbekämpfung – von unschätzbarer Bedeutung. In den vergangenen 20 Jahren hat sich unglaublich viel getan. Neben karitativ orientierten Vereinen gibt es jetzt eine ganze Reihe MFIs, die systematisch Finanzwirtschaft betreiben und oft rasant wachsen. In vielen Ländern interessieren sich mittlerweile auch Regierung und Gesetzgeber für diese Dinge – wobei die Regulierungen, die sie erlassen, nicht immer hilfreich sind. In vielen Ländern dürfen NGOs zum Beispiel zwar Mikrokredite vergeben, aber keine Spareinlagen sammeln. Es gibt aber eindeutig einen Trend weg von den auf Dauer gebersubventionierten Modellen, obwohl diese Modelle für Geber mit ihren chronischen Mittelabflusssorgen sehr bequem sind.

Sie sehen also die Arbeit von GTZ, KfW und anderen deutschen Durchführungsorganisationen mit Skepsis?
Nein, da verstehen Sie mich falsch. Die deutsche Entwicklungspolitik hat in den vergangenen Jahren außerordentlich viel dazu beigetragen, dass in Partnerländern moderne und funktionstüchtige Finanzsysteme entstehen. Dabei geht es um die Vermittlung von Fachwissen, die Einführung von modernen Methoden des Zahlungsverkehrs, die kompetente Beratung von Regulierern und dergleichen mehr. Sicherlich wird auch gelegentlich mit Startkapital geholfen, aber der Fokus liegt ganz bestimmt nicht auf Mittelabfluss. Faszinierend finde ich auch die ProCredit Holding, an der die KfW beteiligt ist. Die ProCredit-Kollegen haben bewiesen, dass es sogar in der DR Kongo oder Haiti möglich ist, sparkassenähnliche Institute mit starker lokaler Verankerung und örtlicher Refinanzierung zu etablieren.

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