Evidenzbasierte Politik

Ungleichgewichte in weltweiter One-Health-Forschung

One Health ist ein international heiß diskutiertes Thema. Über Nacht haben sich manche Leute als Expert*innen entpuppt. Leider sind deren Fachwissen und Verständnis der Geschichte des Konzepts oft mangelhaft. Was die Menschheit braucht, ist internationale Zusammenarbeit, welche die Erfahrungen von Ländern mit geringen und mittleren Durchschnittseinkommen berücksichtigt.
Grafik, die für die nichtstaatliche Initiative One Health Colombia anlässlich einer Konferenz angefertigt wurde. One Health Colombia Grafik, die für die nichtstaatliche Initiative One Health Colombia anlässlich einer Konferenz angefertigt wurde.

Das moderne wissenschaftliche Konzept von One Health (OH) hat sich über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg entwickelt. Der Begriff steht für einen transdisziplinären Ansatz, der anerkennt, dass menschliche Gesundheit eng mit der Gesundheit von Tieren, Pflanzen und Umwelt verbunden ist.

Das ist natürlich keine neue Erkenntnis. OH hat historische Vorgänger, die mehr als 10 000 Jahre zurückreichen. Traditionelles indigenes Wissen ordnet Gesundheit in eine zutiefst verflochtene Welt mit tiefer Verbindung zur Natur ein. OH-Maßnahmen spiegeln daher häufig überliefertes Wissen und traditionelle Praktiken wider.

Die Covid-19-Pandemie hat OH ganz oben auf die internationale Agenda gesetzt. Diese zuvor unbekannte Krankheit ist vermutlich eine Zoonose, die von Tieren auf Menschen übertragen wird. Sie wird mit der Zerstörung von Lebensräumen und der Interaktion von Arten in Verbindung gebracht. Wie genau Covid-19 ausbrach, bleibt jedoch eine offene Frage. OH-Expert*innen hatten solch ein Szenario schon seit vielen Jahren vorhergesagt. In der Pandemie erhielten sie dann weltweite Aufmerksamkeit.

Mehr als nur zoonotische Krankheiten

Fälschlicherweise glauben einige, dass vor allem Zoonosen das Hauptthema von OH seien. In Wahrheit geht es um viel mehr. Zu den relevanten Themenfeldern gehören neben neuen und vernachlässigten Krankheiten beispielsweise auch Lebensmittelsicherheit, Ökosysteme zu Wasser und Land, Artenvielfalt, Antibiotikaresistenzen, Migration und Weltfrieden. Die Verschmutzung von Böden, Luft und Wasser hat ebenso große Bedeutung wie die Auswirkungen der globalen Erderwärmung. Handel mit Jagdprodukten, aber auch die Qualität von Gesundheitssystemen und solide Daten sind hochrelevant.

OH ist ein komplexes Konzept. Verschiedene Wissenschaftler*innen und Institutionen haben unterschiedliche Ansätze entwickelt – und viele haben auch Mängel. Die sogenannte „Quadripartite“, die die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das UN-Umweltprogramm (UNEP) und die Weltorganisation für Tiergesundheit (WOAH) gemeinsam ins Leben gerufen haben, hat eine aktuelle Definition von One Health veröffentlicht. Ihr gemeinsamer Aktionsplan ist lobenswert, sollte aber nicht für endgültig oder allgemeinverbindlich gehalten werden.

Jeder glaubwürdige OH-Ansatz muss Gesundheit auf allen Ebenen berücksichtigen – einschließlich der Gesundheit des Planeten, lokaler Gemeinschaften sowie von Landwirtschaft oder Stadtvierteln. Alle Ebenen sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig.

Darüber hinaus muss ein OH-Ansatz soziale Ungleichheiten auf globaler, nationaler und lokaler Ebene berücksichtigen. Dazu gehören neben dem Zugang zur Gesundheitsversorgung auch andere Dimensionen sozialer Ungerechtigkeit. Unterschiedliche soziale Gruppen sind Gesundheitsrisiken schließlich nicht in gleichem Maß ausgesetzt. Merkmale wie Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit spielen zum Beispiel eine Rolle. Medizinisch unterversorgte Gemeinschaften leben und arbeiten oft in Umfeldern, die aus verschiedenen Gründen ihre Gesundheit gefährden und die sie sich nicht ausgesucht haben. Natürliche Ökosysteme können Risiken bergen, aber auch Umweltverschmutzung und andere menschengemachte Probleme können der Gesundheit schaden.

Bottom-up oder top-down

Die Lebensbedingungen sind nicht überall gleich, und entsprechend variiert auch, was OH in der Praxis bedeutet, regional und kulturell. Das gilt auch für die daraus folgende Politik. In Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen fällt auf, dass Lernprozesse eher einer „Bottom-up“-Logik folgen. Graswurzelbewegungen spielen eine wichtige Rolle, und wissenschaftlich Tätige greifen dann die Gesundheitsprobleme lokaler und marginalisierter Gemeinschaften als Forschungsthema auf. Meist tun sie das ohne finanzielle Förderung. Die Projekte bleiben oft kleinteilig und unkoordiniert.

Im Kontrast dazu ist OH in Ländern mit hohen Einkommen meist ein Thema, das Regierungen „top-down“ angehen. Diese Länder sind vergleichsweise finanzstark. Oft hängen Länder mit niedrigen Einkommen sogar von deren Entwicklungshilfe (ODA – official development assistance) ab. Folglich prägt der sogenannte „globale Norden“ die internationale Agenda unverhältnismäßig stark.

Forschungsungleichheit

Internationale Ungleichgewichte in der wissenschaftlichen und medizinischen Forschung verschärfen dieses Missverhältnis. Kluge Köpfe aus benachteiligten Ländern zieht es – während des Studiums oder später nach dem ersten Abschluss – an Hochschulen in Ländern mit hohen Einkommen. Pull-Faktoren sind höhere Gehälter, Forschungsbudgets und die Reputation der Institute. Relevant ist auch, dass Vorgesetzte und Lehrkräfte hier ihren Untergebenen mehr Aufmerksamkeit schenken. Der Umzug in das reichere Land erweist sich oft als dauerhaft. Diese Abwanderung von Fachkräften hat zwei Auswirkungen:

  • Viele Forschende verlagern ihre Schwerpunkte von den Belangen der Entwicklungsländer auf die der fortgeschrittenen Nationen, denn dafür gibt es Fördermittel.
  • Andere widmen ihren Herkunftsländern weiterhin Zeit, aber nicht viel Geld. Die Wirkung ihrer Arbeit bleib trotz guter Absichten überschaubar.
  • Das führt dazu, dass die Forschung zu lokalen Problemen benachteiligter Länder kaum systematisch organisiert ist. Es mangelt an gut finanzierten, umfassenden Forschungsprogrammen. Einzelprojekte erfordern aber viel Zeit, lange Sitzungen und hohen bürokratischen Aufwand.

Zudem prägt Ungleichheit auch wissenschaftliche Hierarchien. Aller fortschrittlichen Rhetorik zum Trotz haben Frauen und Angehörige marginalisierter Gruppen schlechtere Chancen. Die Aufmerksamkeit der Wissenschaft wird somit systematisch von denen abgelenkt, die die größte Not leiden.

Wertvolle Initiativen

Dennoch ist zu beobachten, dass afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder begonnen haben, sinnvolle OH-Strategien zu formulieren. Sie betrachten Gesundheit in ganzheitlicher Perspektive. Interdisziplinäre Zusammenarbeit kann nützliche Innovationen hervorbringen, die bessere Gesundheit zu geringeren Kosten ermöglichen. Eine junge Generation wächst heran, die systemisches Denken verinnerlicht hat. Dank besserem Monitoring von OH-Faktoren kann die Politik schneller eingreifen, sobald – oder besser noch bevor – eine Gesundheitskrise entsteht.

Lateinamerika, eine Region vieler Länder mit mittleren Einkommen, ist in mancher Hinsicht ein Vorreiter. Brasilien und Kolumbien beispielsweise wenden das One-Health-Konzept seit den Nullerjahren an. Seit 2017 feiern sie den 3. November als internationalen One-Health-Tag. In Brasilien ist OH sogar gesetzlich verankert. Sowohl das Nationale Wissenschaftszentrum als auch der Senat unterstützen die Umsetzung einer umfassenden Politik, welche die Ministerien für Bildung, Landwirtschaft und Gesundheit und andere Institutionen einbindet.

Ähnliche Fortschritte gibt es in Kolumbien sowie in zentralamerikanischen Ländern mit großen Regenwaldflächen wie etwa Mexiko, Guatemala und Belize. Die Mitgliedsländer der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO – Pan American Health Organization) bekannten sich 2019 zu One Health und den SDGs. Die PAHO hat sich immer wieder für entsprechende Anliegen eingesetzt. Bereits 1968 veranstaltete sie ein Gipfeltreffen zum Thema Gesundheit und Landwirtschaft.

In Afrika geht Ruanda mit gutem Beispiel voran. Das Land gehört zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Seine OH-Bewegung profitiert jedoch von einem gut ausgebauten Netz aus Gesundheitspersonal, Krisenreaktionsteams und internationalen Forschungspartnerschaften. Bemühungen zur Stärkung der Forschungskapazitäten zahlen sich ebenfalls aus. Bemerkenswert ist zudem das Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit unter Gesundheitsfachkräften. Das Gesundheitsverständnis ist ganzheitlich.

So muss es laufen. Was die internationale Gemeinschaft braucht, ist Zusammenarbeit, welche die Stärken des globalen Nordens nutzt und die praktischen Erfahrungen des globalen Südens berücksichtigt. In dieser Hinsicht sind die Initiativen „Nature for Health (N4H)“ und die „International Alliance against Health Risks in Wildlife Trade“ vielversprechend. N4H wird von der deutschen Bundesregierung sowie mehreren multilateralen und zwischenstaatlichen Organisationen unterstützt. Das Ziel ist, OH-Programme in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen technisch zu unterstützen. Letztlich kommt es auf nachhaltige Politik an, welche örtliche Kenntnisse und Bedürfnisse ernst nimmt.

Links
Quadripartite: One health joint plan of action.
https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/363518/9789240059139-eng.pdf?sequence=1

Christina Pettan-­Brewer ist eine Tierärztin aus Brasilien und außerordentliche Professorin an der School of Medicine der University of Washington in Seattle. Sie ist außerdem One-Health-Fulbright-Stipendiatin und -Botschafterin.
kcpb@uw.edu

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