Umwelt

Militärisch relevant

Nach der Katastrophe von Fukushima beschloss die deutsche Bundesregierung, aus der Atomkraft auszusteigen. Die Regierungen mancher Schwellenländer sehen diese Technik dagegen noch immer als Option für klimaverträgliche Energiesicherheit. Zivilgesellschaftliche Organisationen in Indien glauben aber nicht, dass das nationale Atomprogramm aus ökologischen Motiven verfolgt wird, wie Kumar Sundaram von der Coalition for Nuclear Disarmament and Peace den deutschen Umweltaktivistinnen Anna Cavazzini und Jana Schönfeld im Interview erläuterte.
Ein Polizist in der Nähe des Atomkraftwerks Koodankulam im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Nathan G./picture-alliance/dpa Ein Polizist in der Nähe des Atomkraftwerks Koodankulam im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu.

  

Welche Rolle spielt die Atomkraft in der indischen Politik?

Im Energiemix ist sie völlig unbedeutend, aber sie genießt eine übertriebene politische Aufmerksamkeit. Es geht nur um etwa zwei Prozent der gesamten indischen Stromerzeugungskapazität, aber dafür wird der Löwenanteil an den Forschungs- und Entwicklungsmitteln aufgewendet. Dabei hat die Atomkraft pro Jahrzehnt immer nur zehn Prozent von dem geliefert, was angepeilt war. Schwache Leistungen prägen das Department of Atomic Energy (DAE) auch mit Blick auf Arbeitnehmer, das Leiden der Bevölkerung an Reaktorstandorten, Uranminen und die Brennstabproduktion. Nach 40 Jahren Betrieb hat das DAE immer noch keine Sicherheitsbehörde geschaffen, um die Anlagen zu beaufsichtigen.

 

Warum ist die Nuklearlobby so stark?

Die Branche wird komplett von der Regierung gesteuert. Sie hat ein riesiges Budget, wird von der Presse unterstützt und genießt politische Patronage auf höchster Ebene. Wissenschaftlicher Fortschritt gehörte von Anfang an zur Vision der nationalen Unabhängigkeit Indiens – und zwar besonders mit Blick auf Nukleartechnik und Raumfahrt. Für die herrschende Elite geht es um ein Statussymbol. Also wird die Nuklearlobby nicht in Frage gestellt – trotz ihrer riesigen Probleme hinsichtlich Produktivität, Sicherheit, Transparenz und Rechenschaftspflicht.

 

Sind die Anlagen sicher? Hat es Unfälle gegeben?

Es hat eine Reihe schwerer Unfälle und Leckagen gegeben. Der schlimmste Fall war vielleicht, als 1993 der Reaktor in Narora Kühlmittel verlor. In Kaiga ist die Reaktorkuppel eingebrochen, als die Bauarbeiten schon weit fortgeschritten waren. Voriges Jahr ist in Rawatbhata Tritium ausgetreten. Aber diese Dinge werden geheim gehalten; wir erfahren über die meisten Unfälle gar nichts.

 

Was geschieht mit dem Atommüll, der über Jahrtausende sicher gelagert werden muss?

Darüber herrscht in Indien völliges Stillschweigen. Das Umweltministerium hat mitgeteilt, Atommüll sei erst nach 30 Jahren relevant, also gebe es keinen Anlass zur Sorge. Es gab Medienberichte über Pläne für Deponien in den Bundesstaaten Raja­sthan und Karnataka, und daraufhin bildete sich sofort Widerstand an den jeweiligen Standorten. Die Regierung teilte dann mit, es gebe keine Pläne. Wir gehen davon aus, dass der Müll an den Reaktorstandorten bleibt.

 

Was halten Sie von der Absicht, die Nuklear­kapazität bis 2050 zu verhundertfachen?

Das ist anachronistischer Unfug. Bei genauerer Betrachtung erweist sich dieser Plan als nachträgliche Legitimierungsstrategie für das Nuklearabkommen Indiens mit den USA aus dem Jahr 2005. Zuvor hatte das DAE nur moderate Ausbaupläne, aber aus diplomatischen Gründen änderte die Regierung ihr Konzept. Sie versprach, in den USA, Frankreich und Russland Reaktoren zu bestellen, damit diese Länder im Gegenzug den Atomwaffenstatus Indiens anerkennen. Auf einmal wurde Atomkraft zum Instrument der Energiesicherheit erklärt. Und weil das erst im Nachhinein geschah, gibt es ein Muster der Aufhebung und Unterhöhlung demokratischer Standards, die das Programm behindert hätten. Umweltverträglichkeitsprüfungen wurden zur Farce. Es wurde versucht, internationale Partner von Haftung auszunehmen. Sicherheitsregeln und Normen für Standorte wurden manipuliert. Was Atomkraft angeht, wurde das Recht der Bürger auf Information beschnitten. Außerdem unterdrückt die Regierung immer wieder vehement friedliche Proteste an der Basis.

 

Wie hängen das zivile und das militärische Atomprogramm in Indien zusammen?

Indiens Atompolitik war schon immer undurchsichtig, und die zivilen und militärischen Komponenten sind eng miteinander verflochten. Indien kaufte und verwendete in den 50er und 60er Jahren Material, Technik und Fachwissen unter dem Motto „Atoms for Peace" von den USA, Kanada, Britannien und anderen Ländern und sorgte damit dann 1974 für eine „friedliche" Detonation. Das bewies, dass die vermeintlich zivile Technik militärisch relevant ist. Als Reaktion auf diesen Vorfall entstand die internationale Nuclear Suppliers Group (NSG), die die Proliferation von Kernwaffen verhindern soll. Indien erzeugt kaum Atomstrom. Das gesamte Programm war immer auf militärische Ziele ausgerichtet. Beispielsweise wurden Reaktortypen gewählt, die Plutonium für die Waffenherstellung erzeugen. Dem Abkommen mit den USA zufolge ist das militärische vom zivilen Atomprogramm getrennt. Aber das spielt keine Rolle mehr, denn Indien hat jetzt Atomwaffenstatus. Heute kauft Indien Uran für Atomkraftwerke auf dem Weltmarkt, sodass mehr heimische Ressourcen für Rüstungszwecke zur Verfügung stehen.

 

Braucht Indien Atomkraft, um Energiearmut zu bekämpfen?

Nein, die Reaktoren liefern nur rund zwei Prozent unseres Stroms. Das Land steht an einer wichtigen Schwelle. Die Regierung muss die Post-Fukushima-Wirklichkeit anerkennen, die Fortschritte umweltfreundlicher Energietechnik aufgreifen und das de­struktive Konzept zentralisierter Stromerzeugung mit riesigen Versorgungsnetzen hinter sich lassen. Indiens Arme haben gar nichts von der Atomkraft. Der Strom geht an die großen Unternehmen und in die Städte. Der ländliche Raum braucht ein dezentrales Konzept. Das bestehende Modell vernachlässigt die Armen. Indiens Stromerzeugung hat sich in 15 Jahren verdoppelt, aber die Zahl der Dörfer ohne Strom ist fast gleich geblieben. Sage und schreibe 40 Prozent unserer Dörfer werden nicht versorgt. Es ist offensichtlich, dass Indien ein alternatives Konzept braucht.

 

Wie stark ist die Anti-Atom-Bewegung in Indien?

Sie ist recht heterogen. Auf der lokalen Ebene gibt es Bauern, Fischer und Stammesangehörige, die ihr Land und ihre Erwerbsmöglichkeiten verteidigen. Dann haben wir Experten, die vor den Risiken dieser Technik warnen und aufzeigen, dass sie nicht Indiens Bedarf entspricht. Es gibt zudem zivilgesellschaftliche Akteure, die gar nicht in erster Linie gegen Atomkraft eintreten, aber Wert auf Demokratie, Transparenz und öffentliche Rechenschaftspflicht legen. Wieder andere wenden sich gegen Menschenrechtsverstöße und opponieren gegen die Repression, mit der der örtliche Widerstand armer Menschen unterdrückt wird. All diese Leute kooperieren im Lauf der Zeit immer systematischer, aber die Bewegung ist trotzdem noch recht klein, was Organisation, Ressourcen und hauptamtliche Akteure angeht.

 

Sie hat also keinen großen Einfluss?

Wir haben unterschiedliche Erfahrungen. Wir haben sehr prominente Intellektuelle und Vertreter der Zivilgesellschaft für unser Anliegen gewonnen. Es ist uns auch gelungen, die meisten Medien und die städtische Öffentlichkeit für die Protestbewegungen in Koodankulam und Jaitapur zu interessieren. Unser Einfluss auf die Politik bleibt aber schwach. Der Supreme Court hat die Zulassung des Reaktorblocks Koodankulam-1 bestätigt, was für uns ein herber Rückschlag war. Die Regierung ist an Dialog und Umorientierung nicht interessiert. Für sie ist das Atomprogramm eine Frage des nationalen Prestiges und hat große außenpolitische Bedeutung.

 

 Kumar Sundaram arbeitet als wissenschaftlicher Berater für die Coalition for Nuclear Disarmament and Peace (CNDP) in Indien.
pksundaram@gmail.com
http://cndpindia.org/

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