Justiz

Begrenzte Möglichkeiten

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag sorgt seit 2002 dafür, dass nach schweren Gewaltverbrechen Verdächtige zur Rechenschaft gezogen werden können, selbst wenn ihnen in der Heimat nicht der Prozess gemacht wird. Entsprechend tätig wurden zuvor internationale Tribunale, zum Beispiel für Kriegsverbrechen in Ruanda und Jugoslawien. Zur gesellschaftlichen Aufarbeitung von Bürgerkriegen und Gewaltherrschaft sei aber mehr nötig, sagt der Göttinger Juraprofessor Kai Ambos.
Kolumbiens holistischer Friedensprozess ist vorbildlich: öffentliches Gedenken Ermordeter und Verschwundener in Bogotá im Oktober 2018. Daniel Garzon Herazo/picture-alliance/NurPhoto Kolumbiens holistischer Friedensprozess ist vorbildlich: öffentliches Gedenken Ermordeter und Verschwundener in Bogotá im Oktober 2018.

Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) dauern lang und enden oft mit Freisprüchen. Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen äußern darüber immer wieder Unmut. Wird der IStGH seinen Aufgaben gerecht?
Ja, er macht seine Arbeit vernünftig, aber die Erwartungen sind häufig zu hoch. Der IStGH prüft in Einzelfällen, ob einem Tatverdächtigen die Verantwortung für schreckliche Verbrechen nachgewiesen werden kann. Die Verfahren dauern lange, weil die Ermittlungen unter schwierigen Bedingungen stattfinden und die Beweisführung kompliziert ist. Es geht um die konkrete Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Beschuldigten. Die Beteiligung und Genugtuung der Opfer spielen zwar eine große Rolle bei der internationalen Strafjustiz, im Mittelpunkt des konkreten Strafverfahrens steht aber die mögliche Verantwortung des Beschuldigten. Ein Freispruch stellt weder eine Negation begangener Verbrechen noch des Leids der Opfer dar; er bedeutet nur, dass die Schuld des Angeklagten eben nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht.

Es wirkt jedenfalls unbefriedigend, wenn jemand wie Jean-Pierre Bemba nach langem Verfahren und erstinstanzlicher Verurteilung wegen Verbrechen im Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik schließlich doch freigesprochen wird.
Natürlich sind die Opfer und ihre Angehörigen dann enttäuscht. Deswegen ist der konkrete Freispruch aber nicht falsch. Die Entscheidung war sehr knapp (drei zu zwei) und beruhte vor allem auf prozessual-technischen Erwägungen. Letztlich stellte die Berufungsinstanz höhere Anforderungen an die Beweisführung, als die Erstinstanz das getan hatte. Sie verlangte insbesondere einen genaueren Nachweis der Einzeltaten der Truppen Bembas. Sicherlich kann man darüber diskutieren, ob das nötig war, aber die Diskussionsgrundlage ist das konkrete Verfahren, dass von außen eigentlich nicht wirklich beurteilt werden kann. Das gilt übrigens auch für juristisch ausgebildete Personen, wenn sie nicht den ganzen Prozess beobachtet haben. Strafurteile beruhen auf der Überzeugung der Richter, die sie aus der unmittelbaren und mündlichen Beweisaufnahme gewinnen. Wer diese nicht mitbekommt, kann streng genommen gar nicht mitreden. Manchmal beobachten Gerichtsreporter einen Prozess komplett, und ihre Eindrücke und Kommentare sind dann durchaus relevant. Ohne intime Kenntnis der Beweise ist es aber sehr schwer, zu entscheiden, ob ein Mann wie Bemba in einer bestimmten Situation als Milizkommandeur hätte eingreifen können und müssen, um Verbrechen zu verhindern. Leider neigen zivilgesellschaftliche Akteure und Medien häufig dazu, die Dinge zu einfach darstellen und die Beschuldigten zu dämonisieren.

Der IStGH soll aber doch Straflosigkeit nach schweren Verbrechen verhindern. Freisprüche tun das nicht.
Es gibt nicht nur Freisprüche. Thomas Lubanga und Germain Katanga zum Beispiel wurden für Verbrechen im Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo verurteilt. Es wäre rechtsstaatlich völlig unakzeptabel, Verdächtige zu verurteilen, nur damit irgendjemand bestraft wird. Die Aufgabe des IStGH ist insoweit nichts anderes als die jedes anderen Strafgerichts: über die Schuld beziehungsweise Unschuld von Angeklagten mit rechtsstaatlichen Mitteln und in einem fairen Verfahren zu befinden. Die nahezu unbegrenzte Straffreiheit von Despoten und Milizenführern wird damit reduziert, aber natürlich nicht völlig beseitigt. Der IStGH ist Teil eines internationalen Strafjustizsystems, in dem die Hauptverfolgungslast von den Territorial- oder Drittstaaten zu tragen ist. Im Übrigen darf man nicht die begrenzte Wirkung des Strafrechts im Rahmen der Aufarbeitung von Gräueltaten übersehen. Es wird ergänzt durch andere Maßnahmen, wie etwa Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.

Auch im hiesigen NSU-Verfahren sind ja viele Fragen offengeblieben – zum Beispiel, ob die Polizei versagt hat oder welche Rolle der Verfassungsschutz spielte, der zwar offensichtlich vielfachen Kontakt zum NSU hatte, aber zur Aufklärung seiner Straftaten praktisch nichts beitrug. Die Anwälte der Opfer sprechen von strukturellem Rassismus und Staatsversagen.
Ja, das sind alles wichtige Fragen, aber ein Strafprozess kann sie nicht beantworten. Das Oberlandesgericht in München hatte zu entscheiden, ob Beate Zschäpe und die Mitangeklagten schuldig sind oder nicht. Schon eine solche begrenzte Aufgabenstellung muss die meisten Opfer unzufrieden lassen. Für die gesellschaftliche Aufarbeitung schwerer Gewaltverbrechen ist eben mehr als ein Strafverfahren nötig. Deshalb ist zum Beispiel der Weg, der in Kolumbien eingeschlagen wurde, um nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg Frieden zu schaffen, geradezu vorbildlich. Es gibt eine strafrechtliche Komponente in Form einer Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, die Höchststrafen bis zu 20 Jahren verhängen kann. Es gibt aber – in einem integralen, komplementären System der Übergangsjustiz – auch eine Wahrheitskommission, die sich um das große historische Narrativ kümmert, also ein gemeinsames Verständnis der Vergangenheit entwickeln soll. Es gibt ein gesondertes Entschädigungsverfahren für die Opfer und eine Einheit zur systematischen Suche nach Verschwundenen. Das ist aus konzeptioneller Sicht alles gut durchdacht, und die Einzelkomponenten greifen ineinander, ergänzen sich.

Kolumbiens neuer Präsident Iván Duque ist aber ein erklärter Gegner des Friedensvertrages. Ist die institutionelle Verankerung des Friedensprozesses stark genug, um weiter zu bestehen?
Auch Präsident Duque bekennt sich grundsätzlich zum Friedensvertrag und dem geschaffenen System. Er will bestimmte Änderungen vornehmen, aber schon die Mehrheitsverhältnisse im Kongress erlauben ihm nicht, dass System radikal zu verändern oder gar abzuschaffen.

Sie betonten eben, dass es in Kolumbien ein nationales Transitions-System gibt. Haben internationale Instanzen dieselbe Glaubwürdigkeit wie nationale?
Die Akzeptanz internationaler Tribunale und Gerichte ist in der Tat ein großes Problem. Outreach-Programme versuchen die Entfernung von den Tatorten zu kompensieren, das gelingt aber nur begrenzt. Das zeigt sich zum Beispiel am Jugoslawientribunal (International Criminal Tribunal the former Yugoslavia), das Anfang der 1990er Jahre von den UN eingerichtet wurde und derzeit immer noch mittels eines Übergangsmechanismus letzte Verfahren abschließt. Tendenziell hielten Kroaten aber Urteile gegen kroatische Kriegsverbrecher für ungerecht und Serben Urteile gegen serbische Kriegsverbrecher. Wegen dieser nationalistischen Tendenzen sind nationale oder regionale Mechanismen sinnvoller. Denken wir nur an die geringe Akzeptanz der Nürnberger Prozesse hierzulande. Die heute sehr erfolgreiche Nürnberger Akademie wurde erst im Jahre 2014 rechtlich gegründet. Das Problem nationaler Institutionen ist allerdings, dass sie nicht unabhängig sind und zum Spielball politischer Interessen werden. Wie dem auch sei, es ist vernünftig, dass die Nationalstaaten die Hauptverantwortung tragen und der IStGH nur dann zuständig ist, wenn sie nicht fähig oder willens sind, Ermittlungen und Verfahren durchzuführen.

Was halten Sie denn von der Kritik afrikanischer Politiker, der IStGH diene imperialistischen Interessen?
Aus dem Munde von Politikern wie dem verstorbenen Muammar al-Gaddafi, dem sudanesischen Präsidenten Omar Al-Bashir oder dem kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta ist das offensichtlich eine sehr parteiliche und bewusst überspitzte Argumentation. Diese Leute leugnen Tatsachen und erfinden alternative Fakten. Sie nehmen nicht einmal zur Kenntnis, dass ein Großteil der IStGH-Mitarbeiter aus Schwarzafrika kommt, einschließlich so wichtiger Personen wie die aktuelle Chefanklägerin Fatou Bensouda (Gambia) und der aktuelle Präsident Chile Eboe-Osuji (Nigeria) und die Vizepräsidentin Joyce Aluoch (Kenia). Das Motiv solcher Vorwürfe ist leicht zu erkennen: Diese Politiker haben Angst vor dem Gericht, also diskreditieren sie es. Über diese Kritik kann man eigentlich nicht seriös diskutieren. Leider verfängt die Polemik aber in manchen Ländern und bei manchen Leuten. Deshalb ist es gut, dass der IStGH darauf reagiert hat und insbesondere seine Ermittlungen auf andere Weltregionen ausgedehnt hat. Hervorzuheben sind insoweit etwa die Ermittlungen zu Verbrechen in Georgien und die Vorermittlungen zu Irak/Vereinigtes Königreich, Kolumbien, Palästina/Gaza, Ukraine und Venezuela.


Kai Ambos lehrt Strafrecht an der Universität Göttingen, ist Richter am Kosovo-Sondertribunal (Kosovo Specialist Chambers, Den Haag) und Berater (amicus curiae) der kolumbianischen Sondergerichtsbarkeit für den Frieden. Er leitet auch die Forschungsstelle für lateinamerikanisches Straf- und Strafprozessrecht (CEDPAL).
kambos@gwdg.de

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