Editorial

Wunsch nach Zugehörigkeit

Säkularismus wird oft falsch verstanden. Dieses Prinzip der Aufklärung besagt nicht, dass Regierungen den Glauben bekämpfen sollen, sondern dass der Staat gleichen Abstand zu allen Religionsgemeinschaften halten soll.
Soziale Gerechtigkeit ist wichtig: Nonnen verteilen in Bulacan kostenlose Mahlzeiten an arme Familien. Hartmut Schwarzbach/argus/Lineair Soziale Gerechtigkeit ist wichtig: Nonnen verteilen in Bulacan kostenlose Mahlzeiten an arme Familien.

Viele Gläubige befürworten das. Ein Beispiel waren die Verfassungsväter der USA. Sie trennten Staat und Kirche, um zu verhindern, dass Politik ihre diversen Konfessionen korrumpieren würde. Sie wussten, welch immenses Blutvergießen Europa erlitt, weil Staatenlenker ihren Glauben durchsetzen wollten, Andersdenkende verfolgten und selbst vor Krieg nicht zurückschreckten.

Auf den ersten Blick mag die Trennung von Kirche und Staat nicht plausibel scheinen, denn beide stellen Regeln auf. Es geht aber um unterschiedliche Arten von Regeln. Religiöse Regeln sind dazu da, Gläubige in ihrem persönlichen Leben zu leiten und zielen auf übernatürliche Erlösung ab. Staatliche Regeln sollten dagegen daz dienen, das friedliche Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen, die trotz unterschiedlicher Wertvorstellungen im Diesseits miteinander auskommen müssen.

Glaube ist eine subjektive Angelegenheit. Nur die betroffenen Individuen selbst wissen, wie tief ihr Glaube ist und welche kleine oder große Sünde sie trotz allem für akzeptabel halten. Fehlverhalten in einer irdischen Rechtsordnung ist dagegen eine objektive Angelegenheit, die auch andere Menschen betrifft. Wer religiöse Regeln einhält, strebt Seelenfrieden an. Säkulare Regeln dagegen sollten auf vernünftigen und durchsetzbaren Prinzipien beruhen, aber nicht moralisieren.

Während es Gläubigen offen steht, die Normen ihrer geistigen Führer zu akzeptieren, sollten Staatsbürger davon verschont bleiben, dass sich Kleriker oder andere in ihr Privatleben einmischen. Es stimmt natürlich, dass ein Glauben mit klaren moralischen Regeln Menschen Halt geben kann und ihnen oft eine persönliche Disziplin ermöglicht, mit der sie Dingen gewachsen sind, die sie sonst überfordern könnten. Das ist aber eine private Angelegenheit, die den Staat nichts angeht.

Selbstverständlich steht auch Geistlichen das Menschenrecht auf freie Rede zu. Im öffentlichen Diskurs dürfen sie für ihre Haltung werben. Sie dürfen nur nicht so tun, als stünde eigentlich ihnen die Gesetzgebung zu, und sie dürfen Andersdenkende nicht dämonisieren. Dämonisierung ist Entmenschlichung und säht Hass. Geistliche überschreiten auch ihre Kompetenz, wenn sie fordern, dass alle – ob gläubig oder nicht – ihre Doktrinen befolgen. Keine durchdachte Theologie wird verlangen, dass Außenstehende ihre Regeln einhalten, sondern wird Gott deren Bestrafung im Jenseits überlassen.

Leider kann jede Religion für Identitätspolitik missbraucht werden, und diese führt zu intoleranten und anmaßenden Haltungen. Ethnische Zugehörigkeit, Rasse und Sprache können ähnlich instrumentalisiert werden. Gefährlich wird es, wenn in einer Gesellschaft anhand solcher Differenzen Spannung zwischen „uns und denen“ erzeugt wird. Sozialer Wandel und gesellschaftliche Krisen bedeuten aber, dass Menschen sich nach Zugehörigkeit sehnen und für Identitätspolitik anfällig werden. Religiös verbrämte Identitätspolitik kreist aber immer mehr um Politik als um Glauben. Alle Weltreligionen predigen Frieden, und jeder Glaube wird besudelt, wenn Fanatiker in seinem Namen gewalttätig werden.

Wahre Gläubige – ob Christen, Muslime, Hindus oder andere – rufen nicht zu Waffen. Sie wissen, dass ihr Leben in Gottes Hand ist.

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