Sommer-Special

Kalkutta, New York, Venedig

Amitav Ghoshs neuer Roman „Die Inseln“ handelt von der Klimakrise. Das ist eine interessante Wahl, denn der indische Schriftsteller hatte bislang gesagt, dieses Thema eigne sich nicht für ernsthafte Literatur. Dieser Beitrag ist der zweite unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Bedrohte Umwelt: Ufer-Erosion im Gangesdelta. Sushavan Nandy/picture-alliance/NurPhoto Bedrohte Umwelt: Ufer-Erosion im Gangesdelta.

2017 veröffentlichte Ghosh den Essay „Die große Verblendung” über die Klimakrise. Ihr schieres Ausmaß entziehe sich dem Rahmen eines Romans, war eine der Ausgangsthesen (siehe meinen Blogpost). Erstens handele es sich um ein globales Phänomen, wohingegen ein Roman an einen spezifischen Ort zu einer spezifischen Zeit gebunden sei. Zweitens bezeichnete er die Auswirkungen der globalen Erwärmung sowohl als „undenkbar“ als auch als „unvorstellbar“.

Ghosh hat sich diesen Herausforderungen nun erfolgreich gestellt. In „Die Inseln“ betrachtet er den globalen Umweltwandel aus dezidiert bengalischer Perspektive. Die ersten Kapitel spielen in Kalkutta und auf einer abgelegenen Insel im Gangesdelta, wo die Stürme zunehmen, die Küsten erodieren und Artenvielfalt schwindet. Diese ebenso schöne wie gefährliche Landschaft befindet sich in ständigem Wandel und war schon der Schauplatz eines früheren Ghosh-Romans („Hunger der Gezeiten“). Einige Charaktere tauchen im neuen Buch wieder auf, aber es wird deutlich, dass das Leben im Delta noch prekärer geworden ist.

Ghosh berichtet davon, wie zwei junge Männer der Not entkommen wollen und nach Italien aufbrechen. Unterwegs schließen sich Bangladeschis an, die ebenfalls Bengali sprechen. Nationale Grenzen hält Ghosh für zufällige Produkte der Geschichte.

Einer der beiden gelangt nach Venedig, einer alten, vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Stadt. Wie überall in Italien gibt es heute auch hier eine größere Zahl von Migranten aus Bangladesch, die meist gering bezahlte Arbeit ohne jegliche Rechtssicherheit verrichten. Den zweiten Mann verschlägt es nach Ägypten, von wo aus er weiterhin versucht, nach Italien zu gelangen.

Es gibt aber auch eine andere Art von Migration. Wichtige Rollen spielen im Roman Bengalen mit Hochschulabschlüssen und US-Karrieren. Die Hauptfigur hat sich als Buchhändler auf schwer erhältliche Werke spezialisiert und in New York niedergelassen. Während eines kurzen Aufenthalts in Venedig trifft er den illegalen Migranten zufällig wieder. Die beiden kennen sich seit einer dramatischen Begegnung im Gangesdelta, bei der ein Mensch von einer Kobra gebissen wurde und fast starb.

Ein Leitmotiv des Romans ist ein bengalisches Märchen von einem Händler, den die Schlangengöttin verfolgt. Auf der Flucht vor ihr reist er weit und erlebt viele Abenteuer. Es gibt Parallelen zur Odyssee.

Der Buchhändler hat seine Doktorarbeit über dieses Märchen geschrieben und wird am Anfang des Romans wieder darauf angesprochen. Seine Dissertation hatte ausgeführt, dass das Märchen vermutlich während der Kleinen Eiszeit des 17. Jahrhunderts entstand, als Ernteausfälle und andere Notlagen weltweit Probleme verursachten. Auch der Dreißigjährige Krieg in Deutschland kann so erklärt werden (siehe mein Beitrag in der Rubrik Monitor von E+Z/D+C e-Paper 2017/10). Im Verlauf des Romans wird dem Hauptprotagonisten klar, dass auch der Händler im Märchen in Venedig gewesen sein dürfte.

Von Kapitel zu Kapitel ähneln die Erlebnisse des Buchhändlers immer mehr denen der Märchenfigur. Ständig tauchen giftige Tiere auf; er kommt nur knapp davon. Er klammert sich an rationales Denken, wie sich das für einen akademisch geschulten Verstand gehört, aber die Bedeutung von Vorahnungen und die menschliche Fähigkeit zu übernatürlichen Erfahrungen werden ihm ständig klarer.

Die spirituelle Dimension des Romans entspricht einer weiteren Aussage des Essays von 2017. In „Die große Verblendung“ schrieb Ghosh, religiöse Führungspersönlichkeiten wie Papst Franziskus erschienen ihm mit ihren Reaktionen auf die Klimakrise überzeugender als multilaterale Abkommen oder nationale Regierungspolitik.

Trotz vieler überraschender Wendungen ist der Handlungsablauf insgesamt plausibel. Obwohl ein Todesfall das Happy End trübt, wirkt die Anspielung an religiöse Wundererzählungen am Schluss allerdings etwas zu euphorisch.


Literatur
Ghosh, A., 2019: Die Inseln. München, Blessing (Gun island. London, John Murray, 2019).
Ghosh, A., 2017: Die große Verblendung. München, Blessing (The great derangement. Chicago, University Press, 2017).
Ghosh, A., 2006: Hunger der Gezeiten. München, Blessing (The hungry tide. London, HarperCollins, paperback, 2005).

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