Amts- und Regierungsführung

Launische Justiz?

Keine staatliche Stelle darf sich öffentlicher Beobachtung und Kritik entziehen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die indische Justiz mit Entscheidungen gegen Behörden profiliert. Zur Debatte steht aber, ob sie selbst verantwortlich agiert. E+Z/D+C-Chefredakteur Hans Dembowski hat kürzlich neue Einblicke in diese Diskussion bekommen.


[ Von Hans Dembowski]

Anfang Januar habe ich an der Startkonferenz des Law and Social Sciences Research Network (LASSnet) an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi teilgenommen. Es ist ungewöhnlich, wegen einer zehn Jahre alten Doktorarbeit zu einer internationalen Tagung eingeladen zu werden. Selbstverständlich war ich froh über die Chance, mein umstrittenes Buch „Taking the State to Court“ zum ersten Mal überhaupt in dem Land zu diskutieren, das es betrifft.

Mein Buch untersuchte umweltpolitische Fälle von Public Interest Litigation (Rechtsverfahren im öffentlichen Interesse, kurz PIL) im Großraum Kalkutta in den 90er Jahren. Indische PIL-Verfahren beruhen darauf, dass Bürger staatliche Instanzen daraufhin verklagen, ihre Pflichten zu erfüllen. Dieses Phänomen ist mittlerweile sehr viel gründlicher untersucht worden. Viele Ergebnisse stimmen aber mit meinen überein.

Seinerzeit hatten mir verschiedene Rechtsexperten erklärt, mein Unbehagen an gelegentlich wirren PIL-Verfahren sei Folge meiner mangelnden Vertrautheit mit angelsächsischem Recht. Doch auf der Konferenz im Januar diskutierte bereits ein ganzer Raum voller Experten darüber, dass PIL neue Verfahrensweisen hervorgebracht habe, die statt zu abschließenden Urteilen meist nur zu einer langen Kette von einstweiligen Verfügungen führten. Auf diese Weise zögen Richter in erheblichem Maße Verwaltungskompetenzen an sich, richteten aber zugleich Inkohärenz an.

Ein Teilnehmer, der nicht genannt werden will, sagte, die extrem lockeren Verfahrensregeln führten manchmal zur Verletzung eigentlich selbstverständlicher Rechte. Beispielsweise würden die Armen in den Ballungszentren oft gar nicht angehört, obwohl Prozesse ihre Arbeits- und Wohnmöglichkeiten berührten. Insgesamt wurde klar, dass PIL nicht die nötige Verfahrensstrenge aufweist, die für Transparenz und Glaubwürdigkeit nötig wären.

Dennoch warnte Vasudha N. von der zivilgesellschaftlichen Anveshi-Initiative aus Hyderabad davor, PIL als für Arme nutzlos abzutun. Für Slumbewohner seien gerichtliche Aufschubsverfügungen oftmals die letzte Rettung vor der Zwangsräumung, und darauf komme es diesen Menschen an. Varun Gauri, ein Wissenschaftler von der Weltbank, forderte mehr empirische Studien, um zu klären, ob PIL tatsächlich in jüngerer Zeit eine Tendenz gegen die Armen des Landes entwickelt habe.

Die Diskussion heute unterscheidet sich von der der 90er Jahre. Der Fokus liegt jetzt auf Empirie. Als ich meine Forschung 1996 in Kalkutta aufnahm, gab es kaum sozialwissenschaftliche Studien zum Thema. Mit Blick auf die tief gespaltene indische Gesellschaft argumentierten einige linke Juristen, PIL diene der Befreiung unterdrückter und marginalisierter Menschen. Andererseits meinten Politiker – aber auch manche Medien und Wissenschaftler –, die Gerichte überschritten ihre Zuständigkeit, wenn sie in die Angelegenheiten gewählter Amtsträger eingriffen.

Niemand steht über dem Gesetz

Staatshandeln beruht in Indien häufig nicht auf Gesetzen und hält sich auch nicht unbedingt an Regeln. Deshalb ist es sinnvoll, dass Gerichte Behörden Einhalt gebieten. Die linken Juristen betonten seinerzeit zu Recht, dass Richter so klarstellen können, dass niemand – auch keine Institution – über dem Gesetz steht. Derartige Rechtsbindung kann auch den Interessen benachteiligter Schichten dienen. Mir erschien es aber überzogen, von einem Mandat zur „sozialen Transformation“ zu sprechen.

Ähnlich rät heute Arun K. Thiruvengadam von der National University of Singapore davon ab, „die Justiz mit unerfüllbaren – und in einigen Fällen auch falschen – Erwartungen zu überfrachten“. Seiner Ansicht nach sollte die Justiz nicht als Agentur des sozialen Wandels verstanden werden, sondern als eine „Vermittlungsinstanz“, die Dialog zwischen Bürgern und Behörden ermöglichen kann. Vor zehn Jahren hatte ich von einem „rudimentärem öffentlichen Raum“ gesprochen, in dem Bürger begründete Forderungen an den Staat richten können.

Mein Buch beruht auf meiner soziologischen Dissertation an der Universität Bielefeld von 1999. Seine Geschichte ist ungewöhnlich. Oxford University Press veröffentlichte es im Januar 2001, stellte kurz darauf aber aufgrund einer Anordnung des High Court von Kalkutta den Vertrieb international ein. Richter hatten gegen mich, den Verlag und andere ein Verfahren wegen „Contempt of Court“ (Missachtung des Gerichts) eingeleitet. Das Verfahren schwebt bis heute, allerdings scheint der High Court das Interesse verloren zu haben. Nur wenige Bibliotheken besitzen das Buch, seit 2006 steht auf der Website des Essener Asienshauses eine Online-Dokumentation. In Delhi erfuhr ich nun, dass die meisten Wissenschaftler, die sich dezidiert mit PIL beschäftigen, meine Arbeit kennen. Die meisten anderen aber wissen nichts über den Fall.

Ich selbst wurde nie vom Gericht kontaktiert und weiß nicht, was die Richter im Einzelnen bemängelten. Lange nahm ich, der Grund ihres Ärgers sei die Erwähnung von Korruptionsgerüchten gewesen, die in Kalkutta weit verbreitet waren und über die auch die Medien berichteten. Vielleicht störte sich der High Court aber auch an anderen Punkten – etwa an meiner Einschätzung, dass Entscheidungen oft eher auf Launen als auf rechtlichen oder wissenschaftlichen Grundlagen zu beruhen schienen. Möglicherweise irritierte die Justiz aber auch, dass ihre Aufgaben in soziologischen Begriffen definiert wurden.

Insgesamt war mein Urteil über die Justiz indessen sehr positiv, denn die Richter trugen in PIL-Verfahren dazu bei, die Amts- und Regierungsführung im Ballungsraum Kalkutta zu verbessern. In den untersuchten Fällen zogen der örtliche High Court und der Supreme Court of India Regierungsstellen zur Verantwortung, die bis dahin noch nie öffentlich Rechenschaft hatten ablegen müssen. Die Entscheidungen der Richter wirkten sich zudem positiv auf die Umweltbedingungen im Ballungsraum aus.

An indischen Gerichten laufen weiterhin PIL-Verfahren. Ich sehe diese weiterhin als Chance, Amts- und Regierungsführung zu verbessern. Doch besteht die Gefahr, dieses Potenzial mit erratischen Entscheidungen zu verspielen. Angesichts des Schicksals meines Buchs und der Diskussionen auf der Konferenz in Delhi sehe ich das Justizhandeln in Indien heute mit größerer Skepsis als vor zehn Jahren.

Etwas Anlass zur Hoffnung bietet allerdings mittlerweile die nichtstaatliche „Campaign for Judicial Accountability and Judicial Reforms“ mit Sitz in Delhi. Sie dokumentiert unter anderem Korruptionsvorwürfe gegen Richter. In einer Demokratie darf sich keine Institution öffentlicher Beobachtung und Kritik entziehen – und das gilt selbstverständlich auch für die Justiz.

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