Lateinamerika

Aufstand gegen das bewährte Modell

Chile gilt als politisches Musterland La­teinamerikas. Doch seit drei Monaten legen die heftigsten Proteste seit der Rückkehr zur Demokratie die Straßen lahm. Die Studentenbewegung weitet sich zu breiten Demonstrationen für Sozialreformen aus und stellt die doktrinäre Wirtschaftspolitik in Frage.

Am 11. September gedenken die Chilenen alljährlich des Militärputsches von Augusto Pinochet, der das Land von 1973 bis 1990 regierte. Diesmal jedoch mischte sich der Gedenkmarsch mit so­zialen Protesten, welche die Hauptstadt Santiago de Chile schon seit Mai in Atem halten. Die Demonstranten laufen dabei Sturm gegen das Bildungssystem, ein Erbe des Pinochet-Regimes. Pinochet führte seinerzeit eine liberale Marktwirtschaft ein und setzte auf Privatisierungen. Die Verfassung von damals ist bis heute in Kraft. Sie wurde zwar von folgenden, demokratisch gewählten Regierungen reformiert – das Bildungssystem jedoch blieb unberührt.

Im Frühjahr protestierten zunächst Schüler, Studenten und Lehrer, mittlerweile aber auch Menschenrechtler und Gewerkschafter für soziale Gerechtigkeit und Verfassungsreformen. Sie besetzten Schulen und Universitäten, stürmten das Bildungsministerium und einige traten in Hungerstreik. Allein am 10. August nahmen rund 100 000 Menschen an Kundgebungen teil; später riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Schlagzeilen machte unter anderem die Gewaltbereitschaft der Polizei: Hunderte von Verletzten, auch auf Seiten der Staatsdiener, und ein toter Jugendlicher sind die traurige Bilanz. Die Proteste für freie Bildung schwappen mittlerweile sogar nach Brasilien und Kolumbien.

Ruf nach starkem Vater Staat

Chiles Wirtschaftsentwicklung läuft seit Jahren vorbildlich – die Armut sinkt, die Wirtschaft wuchs 2010 ganze fünf Prozent, und Chile trat in den OECD-Club der reichsten Länder ein. Das Bildungssystem ist laut Pisa-Studie sogar das beste in Lateinamerika. Dennoch zählen die Chilenen weiterhin zu den Gesellschaften mit der weltweit höchsten Ungleichheit.

Daran schuld ist auch das Bildungssystem. Denn die Ausbildung chilenischer Jugendlicher hängt vor allem vom Reichtum ihrer Familien ab. Chile ist das OECD-Land mit der niedrigsten Staatsbeteiligung am Bildungssystem; selbst öffentliche Schulen verlangen Gebühren. Die meisten Jugendlichen beenden ihr Studium deshalb mit erdrückenden Schulden von im Schnitt 60 000 Dollar.

Die Studenten in Chile fordern nun eine in der Verfassung verankerte, gute und kostenfreie Bildung für alle. Studiengebühren sollen abgeschafft und staatliche Schulen besser ausgestattet werden. Die rechtskonservative Regierung unter Sebastián Piñera lehnt kostenlose Bildung aber grundsätzlich ab. Erste Gespräche mit Studentenvertretern, in denen Piñera armen Studenten niedrigere Zinsen anbot und mehr Geld für Bildung zusagte, scheiterten denn auch.

Sogar Steuer­erhöhungen akzeptabel

Was die Jugendlichen wollen, ist mehr Staat und weniger Markt. Einige befürworten dafür sogar Steuererhöhungen und eine Verstaatlichung der Kupferindustrie. Ebenfalls gefragt ist ein repräsentativeres Wahlsystem. Auch die Gewerkschaften fordern mehr Staat im größtenteils privaten Renten- und Gesundheitssystem. Damit stellen die Teilnehmer der Proteste lautstark das chilenische Modell in Frage, der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und einer schützenden öffentlichen Hand ist nicht zu überhören. Gleichzeitig sind die Forderungen aber auch ein Produkt des wirtschaftlichen Erfolgs ebendieses Modells: Nur durch den Übergang zum Schwellenland wurde Bildung in Chile so wichtig, dass immer mehr Jugendliche studieren wollen.

Eva-Maria Verfürth

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