NATO

Gespaltenes Land

Afghanistan wird nach dem Rückzug ausländischer Soldaten keinen neuen Bürgerkrieg erleben, sagte Fachjournalist Marco Seliger im Interview Mitte Dezember Hans Dembowski und Peter Hauff. Eine moderne Demokratie wird das Land aber auch nicht sein.
Rückspiegel eines Bundeswehrfahrzeugs. picture-alliance/dpa Rückspiegel eines Bundeswehrfahrzeugs.

Wie ist die Stimmung unter deutschen Soldaten in Afghanistan?
Die meisten Frauen und Männer sind weiterhin von dem Sinn ihrer Arbeit überzeugt. Sie sind gute Mentoren und Helfer, obwohl seit 2005, als die Bundeswehr gezielt mit Aufbauhilfe in Afghanistan begann, der Fortschritt nur millimeterweise vorankommt. Immerhin operieren jetzt Teile der afghanischen Armee selbstständig. Nach unseren Vorstellungen wirklich einsatzfähig ist aber nur ein geringer Prozentsatz der insgesamt 195 000 Soldaten.

Wie viele sind grob geschätzt allein einsatzfähig?
Im deutschen Einsatzbereich gibt es drei afghanische Brigaden mit jeweils zirka 4000 Soldaten. Davon operiert eine selbstständig.

Welche Chance besteht, dass afghanische Sicherheitskräfte 2015 die Verantwortung übernehmen.
Ich muss Ihren Sprachgebrauch korrigieren, denn die Afghanen tragen schon immer die Verantwortung. Die International Security Assistance Force ISAF ist, wie ihr Name schon sagt, zur Unterstützung da. Wenn 2015 alle NATO-Truppen abgezogen sein werden, wird es sicherlich noch Scharmützel geben, aber die afghanischen Sicherheitskräfte werden in der Lage sein, das unter Kontrolle zu bringen. Anders sähe es mit militärischen Angriffen aus dem Ausland aus. Gegen Panzer und Flugzeuge aus Pakistan zum Beispiel hätte die afghanische Armee keine Chance, und viele Afghanen haben davor Angst.

Warum sollte Pakistan das tun?
Vielleicht aus innenpolitischen Motiven. In Afghanistan sind solche Gedankenspiele jedenfalls verbreitet. Wer von Sicherheit spricht, muss aber auch an den Aufbau der lokalen Polizei Afghan Local Police denken, den vor allem die USA finanzieren. Sie soll am Ende rund 30 000 Mann umfassen und über das ganze Land verteilt sein. Solche Bürgerwehren, vielfach aus wieder­bewaffneten Milizionären bestehend, sind zwischen zehn und 100 Mann stark und aus US-Sicht ein Erfolgs­modell. Im Norden funktioniert das Programm tatsächlich gut. Im Süden aber nicht. Dort haben in vielen Dörfern die Taliban das Sagen, die ihre eigene „Local Police“ haben.  

Gibt es Gesprächsfäden zwischen den Taliban und der Regierung?
Nein, ich weiß aus Gesprächen mit hochrangigen Entscheidern, dass die Taliban sich weigern, mit Präsident Hamid Karzai und seiner Regierung zu verhandeln. Was es gibt, sind Einzelgespräche zwischen diversen Bürgerkriegsfraktionen. Im Januar soll in Turkmenistans Hauptstadt Aschgabat sogar eine große Konferenz aller Fraktionen stattfinden, zu der wohl auch die Taliban kommen. Nicht dabei sein werden die afghanische Regierung und deren Hoher Friedensrat. Weil die Regierung nicht als Partner anerkannt wird, tut sich auch der Westen sehr schwer, echte Friedensgespräche anzubahnen. Es muss aber verhandelt werden. Die einzigen hochrangigen Gespräche, die bisher stattfanden, waren Gespräche zwischen Taliban und den USA. Dabei ging es um Gefangenenaustausch. Die Amerikaner wollten einen entführten US-Soldaten zurückhaben, und die Taliban forderten die Freilassung von Kommandeuren aus Guantánamo. Dieser Austausch hat stattgefunden.

Welche Rolle spielt die Drogen­wirtschaft?
Mit Erlösen aus dem Mohnanbau und Drogenhandel finanzieren sich alle Fraktionen, nicht nur die Taliban. Die Aufständischen erheben aber auch Steuern und Zölle an strategisch wichtigen Straßen. Das betrifft selbst Nachschubtransporte der NATO. In der Gerüchteküche Afghanistan hält sich übrigens hartnäckig die Einschätzung, auch die USA würden einen Teil ihrer Kriegsausgaben mit Drogengeschäften finanzieren. Dieses Jahr werden wohl rund 6000 Tonnen Rohopium geerntet werden, das ist eine riesige Menge. Vor einigen Jahren waren es auch schon mal 8000 Tonnen. Von diesem hochrelevanten Wirtschaftszweig profitieren alle Konfliktfraktionen.  

Haben afghanische Bauern eine Alternative zum Mohnanbau?
Jedenfalls bringt ihnen Mohn viel höhere Erträge als zum Beispiel Weizen. Die vom Westen gewünschte Transformation der Landwirtschaft bis 2022 setzt massive Investitionen voraus. Ich frage mich, woher diese kommen sollen. Afghanistans Wirtschaft steht bisher auf zwei Säulen – Bergbau und Landwirtschaft. Wie den Bauern weniger ertragreiche Alternativen schmackhaft gemacht werden sollen, weiß ich nicht. Und solange sich alle Interessen im Drogengeschäft kreuzen, werden auch gute Sicherheitskräfte gewalttätige Auseinandersetzungen nicht unterbinden können.

Also wird das Land in einem neuen Bürgerkrieg zerfallen.
Nein, das glaube ich nicht. Das sagen mir jedenfalls viele meiner Gesprächspartner. Sie begründen das damit, dass die Kosten zu hoch wären und dass die Herrschaftsansprüche weitgehend geklärt sind. Die Profiteure haben sich längst Villen und Schlösser gebaut und wollen das nicht alles wieder verlieren. Das bedeutet aber auch, dass die Taliban und paschtunische Mullahs im Süden und Osten ebenfalls eine Zukunft haben. In gewisser Weise haben sich die wichtigen innerafghanischen Konfliktparteien arrangiert. Deshalb eskaliert die Gewalt nicht mehr weiter. Und darauf kommt es den meisten afghanischen Bürgern an. Sie akzeptieren die soziale, politische und ökonomische Spaltung ihres Landes einfach als Alltag.

Chancen auf einen modernen, demokratischen Staat sehen Sie nicht?
Kurzfristig ist das eine Illusion, aber langfristig kann sich einiges entwickeln. Die Kluft zwischen Stadt und Land ist in Afghanistan gewaltig. Die Städter schauen auf die Dörfer herab, und die Landbevölkerung, die sich bisher immer durchgesetzt hat, denkt: „Euch werden wir es zeigen.“ Wenn auf dem Land einigermaßen Ruhe herrscht, können sich die Städte aber vielleicht entwickeln.

Es gibt in vielen Entwicklungs­ländern ein prekäres Nebeneinander von Tradition und Moderne.
In Afghanistan ist die Kluft zwischen Stadt und Land jedenfalls riesig. Auf dem Land kämpfen die Menschen aber bis heute ums nackte Überleben; und lokale Mullahs haben nach wie vor wenig Interesse an Bildung und Selbstbestimmung für alle. In den Städten gibt es dagegen einen pluralistischen öffentlichen Raum mit vielen Zeitungen und Radiosendern.

Welche Rolle spielt heute religiöse Ideologie?
Wichtig sind den Afghanen die eigene Familie, der Stamm und die ethnische Gruppe. Dschihadisten und religiöse Fanatiker spielen eine abnehmende Rolle. Junge Studenten, die ich unterwegs getroffen habe, haben andere Ziele und sind hoch motiviert. Sie wollen Elend und Armut endlich überwinden. Die junge Generation hat Schulen besucht, verlässliche Strukturen kennengelernt und ist hungrig nach Erfolg. Die Frage ist, ob sie die nötige Chance bekommt.


 

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