Fachliteratur

Von der Krise gebeutelt

Ob das Millenniumsziel 2 „Grundschulbildung für alle“ erreicht wird, hängt grundsätzlich von zwei Faktoren ab: Vom tatsächlichen Schulbesuch und von der Unterrichtsqualität. Dafür wird Geld benötigt – und es gibt Anlass zur Sorge, dass die globale Wirtschaftskrise den gesamten Prozess bremst.


[ Von Jean Bourdon und Katharina Michaelowa ]

Im MDG 2 – allgemeine Grundschulbildung (UPE) – spiegeln sich Ziele wider, die die internationale Gemeinschaft bereits 1990 bei der Forderung nach „Bildung für alle“ (EFA) in Jomtien formuliert und in Dakar im Jahr 2000 ergänzt hat. Der Fokus der MDG-Agenda liegt auf der Einschulung: „Bis 2015 sollen alle Kinder auf der Welt – Mädchen wie Jungen – die Möglichkeit haben, eine Grundschule zu durchlaufen.“ Qualität ist dabei freilich auch wichtig.

Die Erfolge beim Erreichen von Bildung für alle werden regelmässig von der UNESCO als zuständiger internationaler Einrichtung überprüft. In ihrem jährlichen EFA-Bericht legt sie die jüngsten Statistiken zu Bildungsergebnissen und Finanzierung aus nationalen Budgets und Geberbeiträgen vor. Dem aktuellen Bericht (UNESCO, 2008) zufolge ist die Einschulungsrate beträchtlich gestiegen. Zwischen 1999 und 2006 ist sie doppelt so schnell gewachsen wie in den 90er Jahren, südlich der Sahara sogar sechsmal so schnell.

Dennoch gingen 2006 immer noch etwa 75 Millionen Kinder im entsprechenden Alter nicht zur Schule – das sind zwölf Prozent aller Kinder in Entwicklungsländern. In Subsahara-Afrika werden bislang nur 70 Prozent eingeschult, und beim derzeitigen Tempo ist es undenkbar, dass bis 2015 alle Kinder Grundbildung erhalten (UNESCO, 2008, S. 9).

Sinnvolle Grundbildung hat auch mit der Qualität der Schulen zu tun. Das wurde bisher zugunsten der Quantität schändlich vernachlässigt (UNESCO, 2008, S. 21) – so, als garantiere allein die Tatsache, dass Kinder zur Schule gehen, dass sie Grundfertigkeiten wie Lesen und Rechnen erlernen.

Was Einschulung und tatsächliche Erfolge angeht, identifiziert der aktuelle UNESCO-Bericht erhebliche, hartnäckig anhaltende Unterschiede, die mit Wohlstand, Geschlecht, Ort und ethnischer Zugehörigkeit zusammen hängen. Armut ist demnach der schlimmste Nachteil, gefolgt von ländlicher Abgeschiedenheit. In einigen afrikanischen Ländern ist es dreimal wahrscheinlicher, dass Kinder aus wohlhabenden Familien zur Schule gehen, als Kinder, die zu den ärmsten 20 Prozent gehören (S. 74).

Qualitative Ungleichheit entsteht, weil die Möglichkeiten armer Eltern – etwa, ihren Kindern beim Lernen zu helfen – begrenzt sind, oder auch weil Lehrer nur in bestimmten Gegenden oder Schulen arbeiten wollen. Einer der stärksten Schlüsse des UNESCO-Berichtes ist, dass Grundbildung für alle nur erreicht werden kann, wenn sich die Regierungen um Chancengerechtigkeit bemühen.

Im Dakar Framework for Action haben die Geber beteuert, dass „keine glaubwürdige nationale Strategie aus Finanzgründen scheitern“ werde (UNESCO, 2008, S. 203). Solche Anfangsversprechen wurden aber nicht gehalten, obwohl die Ausgaben für Entwick­lungshilfe zwischen 2000 und 2006 jährlich um elf Prozent gestiegen sind. Die Zusagen für künftige Zuwendungen zeigen aber, dass sich der positive Trend in den nächsten Jahren umkehren wird. Zudem scheinen es nicht die ärmsten Länder zu sein, die von der Hilfe am meisten profitieren (S. 208-210).

Weltweite Probleme

Wird der globale wirtschaftliche Abschwung, den die Subprime-Immobilien-Krise der USA ausgelöst hat, die Lage verschlimmern? Die Weltbank hat in einer Reihe von Studien die Folgen der Krise für die Ökonomien der Entwicklungsländer – und insbesondere für die menschliche Entwicklung und Bildung – untersucht. Sie erwartet, dass diese Volkswirtschaften aus folgenden Gründen beeinträchtigt werden:
– abnehmende Export-Nachfrage,
– geringere Investitionen (einschließlich ausländischer Direktinvestitionen),
– geringere Heimatüberweisungen von Migranten und
– weniger Entwicklungshilfe.

Das wiederum wird das Wachstum negativ beeinflussen, zu knapperen nationalen Budgets sowie zu mehr Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung führen und Einkommen verringern (World Bank, 2008).

Da es noch keine empirischen Daten zur aktuellen Krise gibt, sind alle Studien zum Thema spekulativ. Ravallion (2008, S. 8) argumentiert, dass womöglich gerade die ärmsten Länder – und dort wiederum die ärmsten Teile der Bevölkerung – am wenigsten betroffen sein könnten: „Genau die Gründe, aus denen sie arm geblieben sind – geographische Isolation und folglich geringe Verbindung zu nationalen und globalen Märkten – könnten sie jetzt schützen.“

Sofern die Krise aber Arme trifft, werden diese besonders große Anpassungsschwierigkeiten haben. Im Überlebenskampf dürften viele dieser Menschen kurzfristig Entscheidungen treffen, die sich langfristig negativ auswirken – zum Beispiel, wenn sie weniger für Gesundheit und Bildung ausgeben.

Frühere Krisen zeigen, dass unklar ist, ob die ländliche oder die städtische Bevölkerung härter getroffen wird. Das hängt davon ab:
– welche Landwirtschaftsformen dominieren (Subsistenz oder exportorientiert),
– wie sehr städtische und ländliche Märkte integriert sind, und
– wie es um den formellen im Vergleich zum informellen Sektor in den Städten steht.

Der Zusammenhang von Wirtschaftskrise und menschlicher Entwicklung ist auf der Länderebene relativ einfach. Ein komplett isoliertes und somit vom Abschwung abgeschirmtes Land wird auch im Bildungssektor keine Folgen spüren. Allerdings haben isolierte Länder meist niedrige Human Development Indizes. Das heißt: Stärker ent­wickelte Länder bekommen die Krise härter zu spüren. Innerhalb eines Landes sind die Dinge indessen komplexer. Die Weltbank (2009a, S. 5) nennt drei Ebenen, auf denen die Krise Bildungserfolge beeinträchtigen kann:
– Haushalte,
– Schulen und
– Bildungssystem allgemein.

Selbst wenn sich die Krise nicht direkt auf das Einkommen eines bestimmten Haushalts auswirkt – etwa weil er ganz von Subsis­tenzlandwirtschaft lebt – können sich die Bildungschancen dennoch verschlechtern, wenn der Staat weniger Ressourcen zur Verfügung stellt, weniger Lehrer beschäftigt oder sie nur noch unregelmäßig bezahlt. Es kann auch zur Überfüllung von öffentlichen Schulen kommen, wenn wohlhabende Familien es sich nicht mehr leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken.

Andererseits bedeutet geringeres Haushaltseinkommen nicht unbedingt, dass die Bildung leidet. Wenn Heranwachsende keine attraktiven Verdienstmöglichkeiten mehr haben, kann es sein, dass sie wieder zur Schule gehen (Substitutionseffekt), was ansonsten sinkende Bildungsausgaben des Haushalts kompensieren kann (Einkommenseffekt). Damit es so kommt, darf eine Familie jedoch nicht so arm sein, dass alle Mitglieder bei sinkendem Lohn noch mehr arbeiten, um Einkommensausfälle auszugleichen (perverse Arbeitsangebotsfunktion).

In diesem Kontext leuchtet ein Ergebnis von Ravaillon (2008, S. 12) unmittelbar ein: Frühere Finanzkrisen haben in Ländern wie Brasilien und Mexiko Bildungsergebnisse nicht beeinträchtigt, in ärmeren Ländern wie Tansania oder Simbabwe hingegen schon.

Gezielte Interventionen

Wie oben angedeutet, ist die Dynamik von Krisen so komplex, dass es unmöglich ist, genau vorherzusagen, wer am meisten leidet. Dennoch nennt Ravaillon verschiedene Gründe, warum Regierungen und/oder Geber besonders die Armen unterstützen sollten:
– Wenn Arme die Opfer sind, wird das gravierende langfristige Folgen haben. Während wohlhabende Familien ihre Kinder in öffentliche statt in private Schulen schicken, ist in armen Familien mit Schulabbruch und An­alphabetentum zu rechnen.
– Arme Kinder sind ohnehin benachteiligt, was die Qualität der Bildung und den Zugang dazu angeht. Sie sind daher die allerwichtigste Zielgruppe für Interventionen.
– Unterstützung der Armen hat die stärkste Auswirkung auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und somit auf die Konjunktur.
– Wenn die Wirtschaftskrise die besser- oder bestgestellte Bevölkerung am stärksten trifft, aber besonders die Armen unterstützt werden, bietet das eine Chance, Bildungsunterschiede zu überwinden.

Die Dynamik der Politik verläuft jedoch meist anders. Wie Ravaillon aus vergangenen Krisen schließt (S. 20), begünstigen öffentliche Ausgaben meist eben nicht die armen Menschen, sondern solche mit politischem Einfluss. Das gilt besonders in autoritären Staaten.

Sinnvolle Interventionen müssen Interessen berücksichtigen. Es ist zum Beispiel nützlich, nicht nur die Kluft zwischen armen und reichen Zielgruppen zu bedenken, sondern auch die Wünsche der relevanten Akteure im Bildungssektor – also Lehrer, Gemeinden, Eltern. Die Weltbank macht diesbezüglich einige Empfehlungen (2009a). Unter anderem befürwortet sie
– konditionierte (beispielsweise an den Schulbesuch geknüpfte) Sozialleistungen für arme Familien,
– Nahrungsmittelverteilung an Schüler,
– Stipendien,
– Zuschüsse für Schulen und
– zuverlässige Bezahlung von Lehrern in armen Gebieten.

Aktuelle Hintergrundstudien der Weltbank für das jährliche Treffen der EFA High-Level Group gehen detaillierter auf diese Dinge ein. In einer kurzen Zusammenfassung ökometrischer Evaluationen und Experimente zeigen Mertaugh, Jimenez and Patrinos (2009), dass die genannten Maßnahmen wirken, und dass es darüber hinaus sinnvoll sein kann, Schulgebühren aufzuheben. Die Autoren fordern mehr lokale Autonomie, aber auch mehr lokales Monitoring von Schulen.

Frederiksen (2009) geht es um mehr als die Grundbildung. Er warnt, ohne Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und Möglichkeiten in der weiterführenden Bildung, gehe das Interesse an Grundbildung bald verloren. Leider gibt es aber bislang keine Studien darüber, wie Ausgaben für verschiedene Teile des Bildungswesens gegeneinander abzuwägen sind. Es wäre offensichtlich zu spät, die wei­ter­führende Bildung erst zu fördern, wenn 100 Prozent Grundschulbeteiligung erreicht ist. Aber es wäre auch ineffizient, sich zu früh auf weiterführende Programme zu konzentrieren. Das Thema Ungleichheit im Bildungssystem muss auf alle Fälle berücksichtigt werden. Tendenziell dienen Investitionen in die Grundbildung überwiegend den Armen, für weiterführende Bildung stimmt das in armen Ländern dagegen normalerweise nicht (Mertaugh, Jimenez und Patrinos, 2009).

Rogers (2009) untersucht Finanzierungsfragen und die Gefahr pro-zyklischer Entwick­lungshilfe. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Hilfsbudgets genau dann gestrichen werden, wenn sie am dringendsten gebraucht werden. Wenn der wirtschaftliche Aufschwung von expansiver Ausgabenpolitik im Sinne von Keynes abhängt, werden Geber, die gerade dann weniger Mittel zur Verfügung stellen, die Krise in den Empfängerländern verschärfen.

Im EFA-Kontext fällt auf, dass die Geber ihre Zahlungsversprechen schon vor Ausbruch der Krise nicht eingehalten haben. Einige der hier vorgestellten Studien (etwa Frederiksen, 2009) schlagen vor, Zusagen zu erneuern oder zusätzliche Fonds einzurichten, wie etwa einen „Education Transition Fund“ zur Unterstützung des Bildungssektors in fragilen Staaten. Unklar bleibt allerdings, warum Geber, die bestehende Zusagen nicht einhalten, neue erfüllen sollten.

Wie die UNESCO (2008) detailliert darstellt, ist es ein generelles Problem internationaler Abkommen, dass Geber Versprechen nicht halten – ob in der Bildung oder in anderen Politikfeldern. Wenn aber Versprechen ohnehin nicht viel wert sind, wäre es vermutlich besser, die Aussagen der Realität anzupassen. Das würde Entwicklungsländern wenigstens erlauben, ihre Budgets zu planen.

Einige Entwicklungsländer und Länder mit mittleren Einkommen haben in den vergangenen Jahren beträchtliche Finanzmittel angesammelt. Möglicherweise sind sie nun in der Lage, selbst expansive Ausgabenpolitik zu betreiben. Aus entwicklungspolitischer Sicht kommt es sehr darauf an, in welche Sektoren investiert wird (Ravaillon, 2008). Höherer Bildungsaufwand hat sich in solchen Fällen als erfolgreich erwiesen; denn das verschafft eine bessere Startposition nach der Krise (World Bank, 2009a, S. 1).

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