Flüchtlingspolitik

Aufgabe dieses ­Jahrzehnts

Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kooperation, Gerd Müller, beschreibt Herausforderungen und Lösungsansätze zur Bewältigung der aktuellen Flüchtlingskrise.
Gerd Müller besucht eine Flüchtlingsfamilien in einem Zeltlager im Libanon. Grabowski/Photothek Gerd Müller besucht eine Flüchtlingsfamilien in einem Zeltlager im Libanon.

Die Krise in Syrien ist die sichtbarste, aber nicht die einzige, die weltweit zu den rasant steigenden Flüchtlingszahlen führt. Erst vor kurzem habe ich beispielsweise Eritrea besucht. Aus dem abgeschotteten Land im Nordosten Afrikas kommen die meisten afrikanischen Flüchtlinge zu uns – 25 000 waren es im vergangenen Jahr. Das Land steht vor dem Exodus seiner Jugend. Hauptfluchtursache ist der nationale Wehr- und Arbeitsdienst, zu dem junge Männer und Frauen auf faktisch unbegrenzte Dauer zwangsverpflichtet werden.

Ob in Eritrea oder Afghanistan, Sy­rien oder Südsudan – die Menschen, die ihre Heimat verlassen, haben eines gemeinsam: Sie sehen zu Hause keine Perspektive mehr. Sie fliehen vor Konflikten und Kriegen, vor Terror, Gewalt und Diskriminierung. Auch Armut und Arbeitslosigkeit oder die Folgen des Klimawandels – Überschwemmungen, Dürren, Hungersnot – zwingen Menschen dazu, anderswo ein neues Leben aufzu­bauen.

Die Flüchtlingsströme werden in unmittelbarer Zukunft nicht abreißen und sie einzudämmen wird das beherrschende Thema dieses Jahrzehnts sein. Wir müssen dort investieren, wo die Probleme herkommen, denn sonst kommen sie zu uns.

Wir stellen uns dieser Herausforderung: Ich habe den Haushalt umgeschichtet und neue Mittel hinzugewonnen. In diesem Jahr werden wir Zusagen in Höhe von rund 3 Milliarden Euro für neue Vorhaben machen können: für direkte Flüchtlingshilfe, für die Unterstützung von Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen, und für die Bekämpfung von Fluchtursachen. Wir fokussieren Länder und Regionen, aus denen viele Flüchtlinge zu uns kommen, sei es Syrien oder der Nahe Osten, Nord- und Ostafrika, Nigeria, die Ukraine, der Balkan, Pakistan oder Afghanistan.

Befragungen, die das UN-Flüchtlingswerk vergangenes Jahr in Griechenland unter 1200 syrischen Flüchtlingen durchgeführt hat, zeigen deutlich, wo wir ansetzen müssen: Es sind vor allem die gut ausgebildeten, jungen Menschen, die aus Syrien fliehen. Ob sie im ersten Aufnahmeland bleiben oder in ein anderes EU-Land weiterziehen, hängt entscheidend davon ab, ob sie einen Arbeitsplatz finden. Deshalb ist die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern so wichtig. Denn auch wenn im vergangenen Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge zu uns nach Deutschland gekommen sind, dürfen wir nicht vergessen, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge in ihren Nachbarländern bleibt. Dort haben sie meist keinen Zugang zum Arbeitsmarkt.

Um das zu ändern, setze ich in diesem Jahr eine „Beschäftigungsoffensive Nahost“ um, die Flüchtlingen und der einheimischen Bevölkerung Arbeitsmöglichkeiten bietet, etwa über ein „Cash-for-Work-Programme“ in der Türkei, dem Irak, im Libanon oder in Jordanien. Von diesen Programmen sollen möglichst viele Männer und Frauen profitieren, sei es durch einfache Arbeit beim Straßen- und Gebäudebau, aber auch als Lehrer, Erzieher, Krankenpfleger oder Arzt. Diese Programme stärken die kommunale Infrastruktur und wirken wie eine Konjunkturspritze. Vor allem aber können sich die Flüchtlinge wieder selbst versorgen.

In Jordanien konnte ich mir ein genaues Bild davon machen, was die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen für das Land bedeutet: Hier leben mittlerweile rund 630 000 syrische Flüchtlinge – das sind fast 10 Prozent im Verhältnis zur Einwohnerzahl des Landes. Ungefähr 80 000 Flüchtlinge befinden sich in Za’atari – einem Camp, das wir perspektivisch zu einer Stadt mit guter Basisversorgung entwickeln müssen. Der Großteil ist jedoch im Norden des Landes untergekommen. Dort haben sich in einigen Gemeinden die Einwohnerzahlen innerhalb eines Jahres verdoppelt. Die meisten Einheimischen helfen den Flüchtlingen, wie und wo sie nur können.

Doch mit den vielen Flüchtlingen kommen auch große Herausforderungen auf die aufnehmenden Städte und Gemeinden zu: Die Wasserversorgung in ohnehin wasserarmen Gegenden muss sichergestellt werden; die Flüchtlinge benötigen Wohnraum, Schulen, Nahrungsmittel und eine Gesundheitsversorgung.

Uns ist wichtig, dass diese Hilfe sowohl den Flüchtlingen wie auch den Einheimischen zugutekommt, um Spannungen untereinander zu verhindern. Wenn wir beispielsweise die lokale Wasser- und Gesundheitsversorgung für die ganze Gemeinde verbessern, dann steigt dort auch die Bereitschaft, Flüchtlinge zu unterstützen.

Mit deutschen Mitteln wurden mittlerweile 800 000 Menschen in Jordanien mit Wasser und 200 000 Menschen mit Strom versorgt. 15 000 Menschen im Irak konnten eine Beschäftigung aufnehmen. 520 000 Kinder im Libanon, in Jordanien, den Palästinensischen Gebieten, der Türkei und im Nord­irak können wieder die Schule besuchen.


Wiederaufbau: Bereit sein für „Tag X“

Ich sehe positive Signale, dass die laufenden Verhandlungen zu einem Waffenstillstand in Syrien führen könnten. Gleichzeitig müssen wir bereits jetzt den Wiederaufbau des Landes planen. Das wird ein gewaltiger Kraftakt – für das syrische Volk, für Syriens Nachbarn und für uns als internationale Gebergemeinschaft. Das Land ist weitgehend zerstört, die städtische Infrastruktur liegt in Trümmern.

Wir stehen bereit, am „Tag X“ sofort unsere Infrastrukturprojekte auf Syrien auszuweiten. Kurzfristig muss für das Überleben der Menschen gesorgt werden. Dann müssen Schulen gebaut, Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Land braucht wirtschaftliche Impulse, Investitionen in Infrastruktur und neue Institu­tionen. Hier müssen wir auch das große Potenzial der syrischen Flüchtlinge nutzen. Deswegen werde ich verstärkt Flüchtlinge fördern, die sich für ihre Rückkehr in die Heimat vorbereiten, etwa mit Krediten, mit denen sie sich eine wirtschaftliche Existenz aufbauen können.

Aber nicht nur für Syrien, sondern auch für die befreiten Gebiete im Irak brauchen wir einen solchen „Marshallplan“.

Um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, bedarf es gemeinsamer Schritte Europas und der internationalen Gemeinschaft. Leider erleben wir derzeit auch eine Solidaritätskrise. Europa hat in den vergangenen Monaten ein schlechtes Bild abgegeben – und das liegt auch daran, dass es keine klaren Zuständigkeiten gibt. Deshalb fordere ich einen eigenen EU-Sonderbeauftragten für Flüchtlinge. Er braucht ausreichendes Personal, Kompetenzen und Finanzen, und er muss schnellstmöglich ein Konzept zur Bewältigung der Flüchtlingskrise auflegen. Zudem benötigen wir einen 10-Milliarden-Euro-Infrastrukturfonds der EU für alle Länder, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen – vom Nahen Osten bis nach Schweden.

Aber nicht nur Europa, sondern auch andere Staaten und Regionen halten sich zu sehr zurück. Es ist ein Skandal, dass die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen (UNICEF, UNHCR, WFP) nicht genügend Mittel haben, um die Flüchtlinge mit dem Allernotwendigsten versorgen zu können. Deutschland hat seine Unterstützung im vergangenen Jahr auf zirka 700 Millionen Euro erhöht, und wir werden in diesem Jahr auf mindestens diesem Niveau bleiben.

Innerhalb Deutschlands setze ich auch auf starke Partner aus dem nichtstaatlichen Bereich: Gemeinsam mit Handwerk und Handel werden wir beispielsweise in diesem Jahr 1000 jungen Flüchtlingen zu einer Ausbildung verhelfen. Dabei geht es uns vor allem um Berufe, die auch für den Wiederaufbau in den Herkunftsländern der Flüchtlinge dringend benötigt werden.

Viele NGOs, die Kirchen, Stiftungen und private Initiativen helfen entschlossen. Gemeinsam mit Misereor und der Jiyan Foundation erhalten schwer traumatisierte Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien Unterstützung, um nur eines von vielen mutigen Beispielen zu nennen.

Auch die Kommunen in Deutschland möchte ich in ihrem entwicklungspolitischen Engagement noch stärker unterstützen. Denn sie können alles, was Städte und Gemeinden in Entwicklungsländern bei der Versorgung der Flüchtlinge benötigen: Krankenhäuser und Schulen einrichten, Abfall entsorgen, Abwasser klären und Trinkwasser aufbereiten. Vor allem aber wissen sie, wie man eine bürgernahe, dezentrale Verwaltung organisiert – entscheidend beim Wiederaufbau.

Aber auch die Regierungen der Herkunftsländer müssen Verantwortung übernehmen, etwa durch die Förderung von Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung der Korruption und Unterstützung der Zivilgesellschaft. So fordere ich bei meinen Reisen die Regierungen mit Nachdruck auf, eigene Beiträge zur Lösung des Flüchtlingsproblems zu leisten. Dabei scheue ich auch vor schwierigen Themen nicht zurück, wie etwa die Menschenrechtsprobleme in ­Eritrea.


Entwicklungspolitik ist ­Friedenspolitik

Entwicklungspolitik ist durch die aktuelle Herausforderung in einer neuen Dimen­sion gefordert. Die Akteure der Zivilgesellschaft leisten einen großartigen Beitrag. Über die aktuellen Maßnahmen hinaus muss allen Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft spätestens jetzt klar geworden sein: Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik und bedarf einer wesentlichen Stärkung.

Wir stehen vor gewaltigen Aufgaben. Der Gipfel in New York mit der Verabschiedung der SDG-Agenda und der Klimagipfel in Paris setzen die Wegmarken für eine gerechte Partnerschaft der Staaten und Völker, für den Schutz des Planeten und unseres Klimas.

In der neuen Welt – in unserem globalen Dorf – hängt alles mit allem zusammen. Wenn wir jetzt nicht entschlossen handeln, ist die derzeitige Flüchtlingskrise nur der Beginn großer Umwälzungen.


Gerd Müller ist Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
http://www.bmz.de

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