Vertreibung

„Mein Heim, mein Leben“

Das Flüchtlingslager Kakuma in der Turkana-Halbwüste im Norden Kenias beherbergt mehr als 180 000 Menschen. Die meisten kommen aus Somalia und dem Südsudan, und manche leben schon Jahrzehnte hier. Mary Othow ist eine von ihnen.
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„Ich erinnere mich, vor 30 Jahren war in meinem Dorf noch alles in Ordnung. Alle Familienmitglieder waren noch am Leben“, erzählt Mary Othow. Die südsudanesische Frau stammt ursprünglich aus Akobo County im Bundesstaat Jonglei im Südosten des Landes. Sie ist eine von Zehntausenden Geflüchteten, die fast ihr gesamtes Leben in Kakuma verbracht haben.


Mary Othow kam vor 25 Jahren in dieses Lager, sagt sie:

Wir sind Flüchtlinge, und wir werden es immer bleiben. Aus vielerlei Gründen können wir nicht zurück in unsere Heimat: Manche, weil es zu Hause keinen sicheren Ort mehr gibt, andere haben keine Verwandten mehr, weil alle in dem Konflikt getötet wurden. Deswegen haben wir weder die Hoffnung noch einen Grund, nach Hause zu gehen. Das Flüchtlingslager ist unsere Heimat – für immer.


Mary Othow flüchtete zum ersten Mal während des sudanesischen Bürgerkriegs, der 1983 begann und erst mit dem Friedensabkommen von 2005 beendet wurde, welches den Weg zu einer Abstimmung über die Unabhängigkeit Südsudans bereitete. Mary Othow beschreibt detailliert den Tag, als ihr Heim zerstört wurde:

Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, wurde unser Dorf von arabischen Milizen brutal angegriffen. Es war frühmorgens. Die Milizen schossen mit schwerem Geschütz, das wie Donner klang. Der Boden bebte, und Bäume fielen um. Um mich herum lagen überall Tote. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich große Angst.

Meine Mutter wurde an diesem Tag getötet. Die Milizen – viele Männer – kamen in unseren Hof. Sie riefen ,Kommt raus! Kommt raus! Oder wir zünden euer Haus an!‘ Meine Mutter bekam Angst. Sie sagte uns Kindern, dass sie allein rausgehen würde und dass wir drinbleiben sollten, gut versteckt und mucksmäuschenstill. Die Milizen hatten bereits andere Hütten auf dem Hof niedergebrannt, nur unser Haus stand noch. Meine Mutter ging mutig nach draußen. Sie hat ihr Leben für uns geopfert.

Die Milizen fragten sie, ob sich jemand im Gebäude versteckt, aber meine Mutter bestand darauf, dass niemand sonst da sei. Sie glaubten ihr nicht, also kam einer von ihnen, um unser Haus zu durchsuchen, aber wir waren gut versteckt und sehr leise. Der Mann ging wieder und sagte seinem Anführer, dass niemand drinnen sei.

Nach einem schrecklichen Verhör erschossen sie meine Mutter. Selbst nach ihrem Tod wurde sie gedemütigt; die Milizen zerteilten ihren Körper mit Messern und Macheten und warfen sie auf die Leichen meiner Tante und meiner Cousine, die schon früher an demselben Tag ermordet worden waren.

Einige Stunden später hörte das Gewehrfeuer auf. Stille breitete sich aus. Wir kamen aus unserem Versteck. Zusammen mit den wenigen Kindern aus dem Dorf, die überlebt hatten, entschieden wir uns, wegzugehen und einen Ort zu suchen, der sicher war.
Auf unserem Weg lagen viele Leichen. Wenn es überhaupt Lebewesen gab, die an diesem Tag glücklich waren, dann waren es die Geier. Ich war sehr traurig und hasste den Gedanken, den Rest meines Lebens auf der Erde leben zu müssen. Wir marschierten viele Wochen, bis wir endlich die Grenze zu Äthiopien erreichten.


Leben auf der Flucht

1983 kam Mary Othow im Pinyudo Flüchtlingslager in Äthiopien an. Sie erinnert sich, wie schwierig das Leben dort war:

Meine kleinen Brüder und Schwestern und ich waren nun Waisen, und ich war die Einzige, die für sie sorgen konnte. Ich habe kleine Geschäfte gemacht, um sie zu ernähren. Bald hatte ich auch eigene Kinder. Aber mein Mann Okello Opiew, ein Veteran der frühen Jahre der Befreiungsbewegung Sudan People Liberation Army/Sudan People Liberation Movement, wurde in meiner Heimat Akobo getötet. Mehrere Male versuchte ich, mich umzubringen. Aber jedes Mal, wenn ich ein Seil um meinen Hals band, sprachen Geister zu mir und sagten, ,wenn du dich umbringst, wer wird für deine Geschwister und Kinder sorgen?‘ Also lebte ich weiter unter diesen harten Bedingungen und musste jeden Tag kämpfen, damit meine Kinder überlebten. Eine alleinstehende Mutter zu sein ist wirklich hart. Ich konnte viele Bedürfnisse meiner Kinder nicht erfüllen.


Einige Jahre später berichtete ihr ein Verwandter, dass das Leben woanders besser sein könnte. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, aber sie entschied sich, Äthiopien zu verlassen und einen besseren Ort zu suchen:

Wir reisten monatelang ohne ein festes Ziel. Anfang des Jahres 1991 erreichten wir Lokichokio im nördlichen Kenia an der Grenze zum Südsudan. Leute, die sich UN nannten, mit denselben Symbolen und Logos auf ihren Kleidern, wie ich sie auch in Pinyudo gesehen hatte, nahmen uns auf, boten uns eine Bleibe an und gaben uns Essen und Wasser.

Später wurden wir zu einer vorläufigen Bleibe gebracht – ich weiß nicht, wann, nach ein paar Monaten oder so; ich bin eine ungebildete Frau und kenne die Monate und Jahre nicht so genau. Eines Morgens sah ich jedenfalls mehrere Konvois mit dem Symbol von UNHCR in einer langen Reihe. Unsere Namen wurden laut ausgerufen; wir stiegen einer nach dem anderen in diese Wagen. Wir wurden hier an diesen Ort gebracht, in das Flüchtlingslager Kakuma, das nun seit über zwei Jahrzehnten mein Heim ist.


Mary Othow wurde schnell klar, dass auch im Kakuma Camp das Leben hart war. Sie war auf UN-Nahrungsmittel angewiesen, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Von ihren Geschwistern war sie bereits getrennt.

Die meisten meiner Brüder und Schwestern wurden schon damals in meiner Heimat ermordet. Nur wenige überlebten und gingen mit mir nach Äthiopien, aber ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Ich frage mich, ob sie überhaupt noch leben. Wenn Neuankömmlinge hier ins Lager kommen, frage ich sie immer, ob sie einen meiner Verwandten kennen, aber ich habe nie etwas von ihnen erfahren.

Der UNHCR verteilt in Kakuma Nahrungsmittel und andere Dinge. Er hat Krankenhäuser, Apotheken und sogar Schulen für unsere Kinder eröffnet. Meine beiden Söhne wurden eingeschult und lernten eifrig. Manchmal konnte mein älterer Sohn nicht in die Schule gehen, weil es nicht genug zu essen gab oder weil unsere Hütte kaputt war, denn er war der Einzige, der mir helfen konnte, das Dach zu reparieren oder Geld für Essen zu besorgen.

Ich bin stolz auf meine Kinder. Die drei sind inzwischen an verschiedenen Orten: Ojullu Okello ist in den USA, Peter Okello im Flüchtlingscamp Dadaab in Kenia, und meine Tochter, Anyango Okello, lebt hier mit mir in Kakuma. Sie respektieren mich, und sie haben immer fleißig in der Schule gelernt – sie haben mich nie enttäuscht. Die Jungs haben das Camp inzwischen verlassen. Auch wenn sie momentan keine guten Jobs haben, sind sie doch gebildet. Ich weiß, dass sie sich selbst helfen können; sie sind nicht wie ich, ihre ungebildete Mutter. Meine Kinder nennen Kakuma ihre Heimat, weil sie hier aufgewachsen sind.


Das jüngste Friedensabkommen zwischen den Kriegsparteien des Südsudans macht Mary Othow keine Hoffnungen.

Sie kämpfen um Geld, Positionen und Macht. Warum tun sie das? Unser Land ist endlich frei; ich kann nicht verstehen, warum sie weiter untereinander kämpfen. Wie auch immer, ich kann nicht mehr in den Südsudan zurückkehren. Kakuma ist mein Heim und mein Leben. Es ist ein guter Ort, weil meine Kinder hier eine bessere Ausbildung bekommen haben als es in unserem Dorf im Südsudan möglich gewesen wäre; hier bekamen sie Medizin, wenn sie krank waren. Mein älterer Sohn hat hier sogar geheiratet. Wie also kann man diesen Ort nennen? Dafür gibt es nur ein Wort: Heimat.


Peter Owar Okello ist Mary Othows Sohn. Er ist Journalist und lebt momentan in Dadaab / Kenia, nachdem er 2013 aus dem Südsudan zurückkehrte.
okello17art@gmail.com

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Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.