Soziale Schichten

Unerfülltes Versprechen gut bezahlter, sicherer Jobs

Duncan Green von Oxfam erläutert, weshalb sich ökonomisches Denken zugunsten einer stärkeren Rolle des Staates zu ändern scheint. Das marktorthodoxe Paradigma hat nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Breiter Mittelschichtswohlstand bleibt eine Illusion – besonders in den riesigen informellen Sektoren Afrikas und Südasiens. Um Armut nachhaltig zu reduzieren, ist aus Greens Sicht sowohl nationalstaatliche als auch multilaterale Politik nötig.
„Flipflops sind kein Zeichen von stabilem Wohlstand“: Bauarbeiter am Rand des Ballungsraums von Dhaka. DEM „Flipflops sind kein Zeichen von stabilem Wohlstand“: Bauarbeiter am Rand des Ballungsraums von Dhaka.

Jahrzehntelang hat marktorthodoxes Denken die internationalen Finanzinstitutionen geprägt. Ist Wohlstand nach unten durchgesickert?
Es ist nicht viel unten angekommen, aber es ist kräftig nach oben umverteilt worden. Die Ungleichheit ist gewachsen und die ökologischen Schäden sind riesig. Die Ideologie des freien Marktes hat in reichen Ländern zur Finanzrealisierung geführt: früher diente die Finanzwirtschaft der Volkswirtschaft, heute ist es umgekehrt. Auch die Exportsektoren von Entwicklungs- und Schwellenländern dienen der Finanzwirtschaft. Eine kleine Oligarchie ist reicher geworden, den Armen hingegen geht es schlechter – und ihre Zahl ist gewachsen.

Sieht das nicht in Entwicklungs- und Schwellenländern anders aus? Die Kaufkraft ist vielfach gestiegen. Bangladesch ist ein Beispiel. Als ich vor vier Jahren in Dhaka war, machte mein Gastgeber mich darauf aufmerksam, dass in der Stadt niemand mehr barfuß war. Anfang der 1990er Jahre waren dort manche Menschen so arm, dass gelegentlich sogar Erwachsene nackt in der Öffentlichkeit auftauchten.
Ja, ein paar Brotkrumen sind vom Tisch gefallen, aber nur recht wenige. Wenn Länder Wachstumsraten wie Bangladesch haben, nimmt die Wirtschaftstätigkeit zu, und davon profitieren auch Arme. Das gilt ebenso für Indien und verschiedene andere Länder. Aber Flipflops sind kein Zeichen von stabilem Wohlstand. Viel zu viele Menschen hängen weiterhin vom informellen Sektor ab – nicht nur, aber besonders in Südasien und Afrika. Das Versprechen, Wirtschaftswachstum werde massenhaft sichere und gut bezahlte Jobs schaffen, hat sich nicht erfüllt.

Also gab es keinen echten Fortschritt im Kampf gegen die Armut?
In manchen ostasiatischen Staaten ist die Lage besser. Sie sind einem anderen marktwirtschaftlichen Paradigma gefolgt, das nicht mittels Deregulierung nur auf die Minimierung staatlicher Eingriffe fokussiert. Sie haben Industriepolitik betrieben, um bestimmte Branchen international wettbewerbsfähig zu machen und ihre Volkswirtschaften allmählich zu industrialisieren. Frühe Beispiele waren Südkorea und Taiwan, aber China und Vietnam machen das ähnlich. Die Fortschritte, die sie in der Armutsbekämpfung gemacht haben, sehen stabiler aus.

Unter welchen Bedingungen geschieht das?
Das ist schwer zu sagen; es gibt keine magische Formel. Klar ist, dass der Staat eine gewisse Autonomie haben muss, also nicht von Sonderinteressen dominiert werden darf. Auch die Privatwirtschaft ist wichtig. Wo große Ungleichheit herrscht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass mächtige Interessen sich den Staat unterwerfen. Die superreiche Elite kauft dann nach Belieben politische Entscheidungen.

Wer bildet die Mittelschicht, und welche Rolle spielt diese im Entwicklungsprozess?
In der internationalen Debatte bedeutet Mittelschichtzugehörigkeit, dass Menschen sich keine Sorgen darüber machen müssen, ob sie morgen etwas zu essen bekommen, und sich folglich um mehr als ihre unmittelbaren Bedürfnisse kümmern können. Die konventionelle Einschätzung ist, dass sie dann in der Politik mitreden wollen. Das stimmt aber nicht überall. Auf eine Art Mittelschichts-Gegenrevolution in China wird seit Jahrzehnten ergebnislos gewartet. Andererseits haben sich Südkorea und Taiwan tatsächlich demokratisiert. In Indien dagegen unterstützen sehr viele Mittelschichtsangehörige auf katastrophale Weise zunehmend autoritäres Regierungshandeln. Es gibt keinen Automatismus, der auf Wirtschaftswachstum das Entstehen einer fortschrittlichen Mittelschicht folgen ließe. Die große Frage ist, mit wem sich die Mittelschicht verbindet. In Brasilien war die Arbeiterpartei (PT) lange eine mächtige Allianz von der Mittelschicht mit den Armen. Vielleicht hat sie bei den Wahlen nächstes Jahr wieder Erfolg.

Was lässt Menschen der Armut entkommen?
Nötig sind Sozialpolitik plus Arbeitsplätze. Eine Lehre der Corona-Pandemie ist, dass es dort, wo es funktionierende Sicherungssysteme gab, vergleichsweise leicht fiel auf die Krankheit zu reagieren und die bestehenden Systeme auszuweiten. Vielleicht bauen Nationen ihre soziale Sicherung nun langfristig aus. Das wäre jedenfalls eine gute Konsequenz dieser schrecklichen Gesundheitskrise.

Was ist für nachhaltigen Mittelschichtswohlstand erforderlich?
Politische Stabilität und Rechtssicherheit sind wichtig. Darüber hinaus kommt es auf soziale Infrastrukturen an. Niemand sollte für Strom Schmiergeld zahlen müssen. Zugang zu Bildungs- und Gesundheitswesen ist unverzichtbar. Wer sehr reich ist, schickt seine Kinder auf die Harvard-Universität oder die London School of Economics. Diese Leute reisen auch für Arztbesuche ins Ausland – oder fürs Shopping. Mittelschichten können sich so etwas nicht leisten. Sie sind auf das angewiesen, was vor Ort erhältlich ist. Das macht sie potenziell tatsächlich zu wichtigen Akteuren für gesellschaftlichen Fortschritt – nur handeln sie halt nicht immer entsprechend.

Ist nationalstaatliche oder multilaterale Politik nötig, um Armut zu beenden?
Beides ist nötig. Die wichtigsten Instrumente für Armutsbekämpfung sind nationalstaatlich, und wirkungsvolles Regierungshandeln ist wesentlich. Andererseits brauchen wir multilaterale Politik für globale öffentliche Güter. Kein Einzelstaat kann das Klima allein schützen. Gesundheitsrisiken erfordern globales Handeln. Was Steuern angeht, muss der Wettlauf nach unten beendet werden. Es gibt für globale öffentliche Güter noch viele weitere Beispiele …

Der Internationale Währungsfonds (IWF) weicht seit einiger Zeit von der Doktrin freier Märkte ab. Er spricht sich für einen starken Staat und massive öffentliche Ausgaben aus. Ist dieser Wandel echt?
Wenn Sie sich anschauen, wie der IWF sich gegenüber einzelnen Partnerregierungen gibt, sehen Sie nicht viel Veränderung. Die Ermahnungen zu solider Haushaltsführung und so weiter bestehen fort. Aber im multilateralen Kontext hat sich der Fonds stark gewandelt. Aus meiner Sicht entspricht das der professionellen Debatte unter Ökonomen. Die Ideologie des freien Marktes ist offensichtlich gescheitert. Staatsausgaben und Haushaltsdefizite lösen ihr zufolge Inflation aus. Aber das ist nicht geschehen – und zwar weder heute noch nach der globalen Finanzkrise von 2008. Zudem sind, wie schon erwähnt, die vielen in Aussicht gestellten guten Arbeitsplätze ausgeblieben. Vor ein paar Wochen urteilte das Londoner Wirtschaftsmagazin Economist, das internationale Paradigma verändere sich derzeit zugunsten eines starken Staates. Ein Beleg dafür, dass sich tatsächlich etwas tut, ist das ungeheure Ausmaß, in dem Präsident Joe Biden die Staatsausgaben der USA steigern will.

Früher unterstützte der IWF meist die Politik des Weißen Hauses, diesmal änderte er jedoch sein Konzept lange vor Bidens Amtsantritt.
Die Geometrie der internationalen Politik ist hoch variabel. Früher dachten zivilgesellschaftliche Organisationen, sie wüssten, wer die Guten und wer die Bösen sind. Heute ist alles sehr verwirrend, weil immer wieder neue, ungewohnte Allianzen entstehen. In der Klimapolitik ergreifen plötzlich Städte die Initiative und dann Versicherungsunternehmen oder andere Großinvestoren. Inzwischen beschäftigen sich Zentralbanken und Gerichte mit Klimathemen. Für kluge Bündnispolitik müssen wir uns in Akteure mit völlig unterschiedlichen Hintergründen hineindenken und können uns nicht einfach nur mit Gleichgesinnten zusammentun.

Wie passen die Rechtspopulisten ins Bild? Einerseits wettern sie gegen Globalisierung und sagen unzufriedenen Menschen, sie würden betrogen. Andererseits nutzen sie, wenn sie in politische Ämter gewählt werden, die staatlichen Mittel nicht, um die Lebenslage ihrer Wähler zu verbessern. Regelmäßig dienen sie dagegen den Interessen einer superreichen Minderheit, die den Staat ablehnt, weil sie weder Steuern zahlen noch Umweltregeln oder Arbeitsnormen akzeptieren will. Rechtspopulisten leugnen den Klimawandel, sind sozialpolitisch eher unbedarft und scheinen mehr an Polarisierung als an Problemlösung interessiert zu sein. Multilaterale Organisationen wollen dagegen globale Probleme angehen.
Das Szenario ist sehr verwirrend. Es gibt in der Tat den Trend, dass arme Menschen mit geringer Bildung rechts wählen, während wohlhabende, hochgebildete Menschen Mitte-links-Parteien vorziehen. Marxisten fällt es schwer, das zu erklären. Ich teile aber Ihre Einschätzung nicht, dass die Superreichen den Staat ablehnen. Sie sind Opportunisten. Wenn sie in Krisen Rettungsschirme brauchen, lieben sie den Staat. Sie wollen von ihm in guten Zeiten nur nicht eingeschränkt werden. Sie lehnen den Staat nicht ab, sie wollen ihn sich unterwerfen und kontrollieren.


Duncan Green ist Senior Strategic Adviser von Oxfam Britain und Professor für entwicklungspolitische Praxis an der London School of Economics.
d.j.green@lse.ac.uk
twitter: @fp2p

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