Editorial

Strategie-Defizit

Das Gewaltmonopol ist der Kern jedes funktionierenden Staates. Und je besser es funktioniert, desto weniger erinnert an Gewalt. Denn Gesellschaften, die sich friedlich selbst regulieren, tragen Konflikte mit rhetorischen Mitteln aus – in den Medien, in gewählten Gremien, vor Gerichten. Immer gilt dabei, dass nur der Staat legitime Gewalt ausüben darf – und das auch nur auf der Grundlage von Rechtsbestimmungen. Das ist es, was beispielsweise Finnland oder Costa Rica zu friedlich-demokratischen Musterländern macht.

Vielfältige Krisen zeugen davon, dass weltweit weder das staatliche Gewaltmonopol noch seine demokratisch legitimierte Anwendung Selbstverständlichkeiten sind. Den Beleg lieferten im Februar Meldungen aus Kenia, Tschad oder Ost-Timor. Regelmäßig sind Entwicklungs- und Nothelfer involviert, oft aber auch Soldaten aus anderen Nationen. Es handelt sich um Weltereignisse, nicht Provinzgeschehen.

Für die Opfer, die unter Brutalität oder auch nur Bedrohung leiden, ist Staatszerfall überall schlimm. Aus Sicht der westlichen Gebergemeinschaft ist indessen Afghanistan der wichtigste Fall. Hier muss sie beweisen, dass es möglich ist, nach Jahrzehnten von Bürgerkrieg und Gewaltherrschaft eine funktionierende Demokratie und eine blühende Wirtschaft zu etablieren. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden zu diesem Zweck die islamistischen Taliban von der Macht vertrieben und internationale Truppen stationiert.

Etwas mehr als sechs Jahre später ist die Bilanz deprimierend, wenn auch nicht völlig negativ. Weite Teile Afghanistans sind Kriegsgebiet. Die Grenzregion zu Pakistan ist besonders gefährlich, und das Nachbarland erscheint selbst zunehmend instabil. Trotz UN-Mandat und Nato-Einsatz fehlt es der internationalen Gemeinschaft an einer überzeugenden, gemeinsamen Strategie. Ihr Handeln wirkt ähnlich zerklüftet wie das Land, das sie zu retten beansprucht.

Keine Frage: Die Politik des „light footprint“ ist gescheitert. Es ist unverantwortlich, mit martialischer Gewalt vermeintliche Terroristen zu jagen, ohne die Zivil­be­völ­kerung schützen zu können oder auch nur Rücksicht auf sie zu nehmen. Es bringt nicht viel, die kriminelle Drogenwirtschaft zu verdammen, wenn diese die volkswirtschaftlich wichtigste Branche im Lande bleibt. Wer die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht versteht, hat keine Chance, sie für sich zu gewinnen.

Pro Kopf der Bevölkerung, das rechnet Paddy Ashdown vor, steht in Afghanistan nur ein 25stel der internationalen Truppen, die nach Kosovo und Bosnien geschickt wurden. Die Entwicklungsmittel erreichen sogar nur ein 50stel des auf dem Balkan eingesetzten Niveaus. Ashdown fordert eine geschlossene Strategie mit den Prioritäten menschliche Sicherheit, Regierungsaufbau und Rechtsstaatlichkei für Afghanistan, erkennt aber bislang nur Taktiererei der Geber. Der Mann kennt die Materie. Er war von 2002 bis 2006 Hoher Repräsentant für die UN und die EU in Bosnien, kürzlich lehnte ihn die afghanische Regierung als UN-Sondergesandten ab.

In Deutschland kreist die Afghanistandiskussion oft darum, ob militärische oder entwicklungspolitische Konzepte weiterführen. Aber die platte Formel „Entwicklungshilfe statt Truppen“, die beispielsweise der Linkspopulist Oskar Lafontaine benutzt hat, führt in die Irre. Beides ist nötig – samt einer rea­lis­tischen und kohärenten Strategie. Dass Afghanistan nicht der einzige Krisenstaat ist, darf darüber nicht vergessen werden.

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