HIPC-Initiative

Erfolg mit kurzer Halbwertzeit

2015 stellte die Weltbank die Umsetzungsberichte zur Heavily Indebted Poor Countries (HIPC) Initiative ein. Zur Begründung hieß es, die Entschuldung im Rahmen der Initiative sei praktisch abgeschlossen und im Übrigen eine Erfolgsgeschichte. Ist das so? Es lohnt ein Blick zurück.
Ghana gilt als Erfolgsgeschichte der Entschuldung, zählt heute aber wieder zu den Hochrisikoländern. Bauarbeiterinnen in Accra. Giling/Lineair Ghana gilt als Erfolgsgeschichte der Entschuldung, zählt heute aber wieder zu den Hochrisikoländern. Bauarbeiterinnen in Accra.

Bis 1996 konnten arme und hochverschuldete Länder nur Schuldenerleichterungen von ihren bilateralen Gläubigern bekommen, nicht aber von multilateralen wie der Weltbank, dem IWF und regionalen und kontinentalen Entwicklungsbanken. Da Gläubigerregierungen jedoch kaum Schuldenerleichterungen gewährten, saßen mehr als 40 arme und teilweise absurd hochverschuldete Länder in einer veritablen Schuldenfalle, die jede wirtschaftliche Entwicklung nahezu ausschloss.

Für viele dieser Länder waren multilaterale Institutionen inzwischen die wichtigste Gläubigergruppe, weil diese den laufenden Schuldendienst der ärmeren Länder durch Neukreditvergabe noch aufrecht erhalten hatten, als Banken und Regierungen dazu nicht mehr bereit waren. Das Problem bestand nun darin, dass die Forderungen der multilateralen Kreditgeber – anders als die der bilateralen – offiziell als nicht restrukturierbar galten. Zwar gibt es weder einen völkerrechtlichen Vertrag noch eine Formulierung in den Verfassungen der multilateralen Institutionen, die einen Forderungsverzicht im Falle hoher Überschuldung ausschlösse. Das politische Argument, man müsse diejenigen Institutionen, die als Gläubiger der letzten Instanz noch zur Verfügung stünden, besonders schützen, wenn sie Länder auch im Krisenfall über Wasser halten sollten, trug aber – bis eben Mitte der neunziger Jahre.

Nach einer 1995 von Schweden und der Schweiz veranstalteten Konsultation mit Experten von Weltbank und IWF legten die Stäbe dieser beiden Institutionen die Grundzüge der späteren HIPC-Initiative vor: Die Initiative sollte die Streichung aller Schulden ermöglichen, die über ein von Bank und Fonds definiertes Tragfähigkeitsniveau hinausgingen. Dazu sollten alle Gläubiger durch unterschiedlich weitgehende Erlasse beitragen, wobei die multilateralen die letzten in der Reihe waren: Sie mussten am Ende nur noch so viel erlassen, wie nach dem Verzicht aller anderen Gläubiger zur Erreichung des tragfähigen Niveaus notwendig war.

Weltbank und IWF sollten für ihren Verzicht entschädigt werden. Dazu wurde aus Entwicklungshilfemitteln der reichen Mitgliedsländer ein Treuhandfonds bestückt. Aber auch die multilateralen Institutionen selbst zahlten in diesen Fonds aus ihren operativen Gewinnen ein. In dem Maße, wie sie das taten, kann man überhaupt nur von multilateralem Forderungsverzicht sprechen.

Es war ein großer Fortschritt, dass die multilateralen Gläubiger auf Forderungen verzichten mussten. Bei der konkreten Gestaltung der Initiative unterliefen IWF und Weltbank jedoch in dem Bemühen, die Kosten für die Multilateralen möglichst gering zu halten, ihre eigenen Ziele. Insbesondere:

  • waren die Tragfähigkeitsziele so hoch angesetzt, dass in den ersten drei Jahren nur sechs Länder um vergleichsweise geringe Beträge entlastet wurden;
  • konnten Bank und Fonds an die verbliebenen Privatgläubiger nur appellieren, sich an der Schuldenerleichterung zu beteiligen – es gab und gibt keinerlei Druckmittel. Das führte mit zur Entstehung des Geschäftsmodells der Geierfonds, die nicht mehr bediente Staatsschulden für geringe Beträge aufkaufen und dann auf volle Begleichung zuzüglich Verzugszinsen klagen;
  • behielten sich IWF und Weltbank das Monopol über die Beurteilung des Erlassbedarfs der Schuldnerländer vor. Das führte in nicht wenigen Fällen dazu, dass absurd hohe Wachstumserwartungen an die Schuldnerländer den Erlassbedarf kleinrechneten.

1999 erweiterten die G8-Staaten auf ihrem Gipfel in Köln die HIPC-Initiative. Die Zielgrößen für eine Entlastung wurden abgesenkt, mehr Länder konnten sich qualifizieren. Bis heute sind das 39 Länder. Bei drei von ihnen steht die tatsächliche Entlastung – wegen mangelhafter Staatlichkeit oder fragwürdiger Regierungsführung – noch aus und ist auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten: Sudan, Somalia und Eritrea.

Das gesamt Erlassvolumen beläuft sich bis heute auf rund 120 Milliarden Dollar. Um diese Summe zu erreichen, waren allerdings weitere Reformschritte nötig. 2005 beim G8-Gipfel in Gleneagles wurde die HIPC-Initiative um die Multilateral Debt Relief Initiative (MDRI) ergänzt. Während die erweiterte HIPC-Initiative die qualifizierten Länder auf ein Niveau von maximal 150 Prozent Verschuldung im Verhältnis zu den jährlichen Exporteinnahmen und einen maximalen Schuldendienst von 15 Prozent der Exporteinnahmen entlastete, sah die MDRI eine vollständige Streichung aller verbliebenen Forderungen aus den Krediten von IWF und Internationaler Entwicklungsorganisation (International Development Association – IDA) sowie der konzessionären Kreditfenster der Afrikanischen und Lateinamerikanischen Entwicklungsbank vor.

Erst dadurch gelang es, Länder auf so niedrige Niveaus zu entlasten, dass tatsächlich ein wirtschaftlicher Neuanfang möglich war. Lag die Verschuldung im Verhältnis zum jährlichen BIP in den meisten Ländern vor 1996 noch über hundert Prozent, sind es heute im Schnitt rund 20 Prozent – weit unterhalb des Durchschnitts aller Entwicklungs- und Schwellenländer.

Dazu trug auch die Reform von HIPC-I zu HIPC-II im Jahr 1999 bei, die ein Armutsbekämpfungsprogramm zur Bedingung für die zu entlastenden Länder machte. Die Regierungen mussten in Kooperation mit der Zivilgesellschaft einen Plan erarbeiten, der im Detail darlegt, wie durch Entschuldung frei werdende Mittel für die Bekämpfung der Armut ausgegeben werden sollen. Wohlgemerkt ersetzte dieses Programm die traditionelle Strukturanpassung nicht etwa, sondern ergänzte sie.

Während die so entstandenen Poverty Reduction Strategy Papers (PRSP) in einigen Ländern wie Malawi oder dem Tschad nicht viel mehr als ein folgenloses Stück politischer Dekoration waren, entstanden daraus in anderen, etwa in Bolivien, bemerkenswerte soziale Prozesse, die wahre politische Paradigmenwechsel auslösten.


Was kommt nach HIPC?

Getrübt wird dieser Erfolg von der Erwartung der internationalen Finanzinstitutionen und ihrer mächtigen Mitglieder, dass die entlasteten Länder dem Teufelskreis von Kreditaufnahme und Überschuldung dauerhaft entkommen sind. Diese Erwartung kann die Initiative aber nicht erfüllen, da sie überschuldeten Ländern den Zugang zum Kreditmarkt wieder ermöglichen soll. Und wo immer es neue Kredite gibt, gibt es auch größere oder kleinere Ausfallrisiken und mithin die Gefahr neuer Überschuldung.

Auf der Grundlage von inzwischen stark verfeinerten Schuldentragfähigkeitsanalysen bescheinigt der IWF mit Stand vom 1.10.2015 sieben der entlasteten 36 Länder erneut ein hohes Überschuldungsrisiko und weiteren 20 ein mittleres. Ersteres bedeutet, dass der IWF in den nächsten Jahren eine Zahlungsunfähigkeit für wahrscheinlich hält, Letzteres, dass diese droht, wenn eines der vom IWF standardmäßig durchgerechneten Krisenszenarien – zum Beispiel durch Preisverfall bei wichtigen Exportgütern – eintritt.

Was in einem solchen erneuten Schuldenkrisenfall geschehen soll, ist so unklar, wie es vor 1996 war: Die traditionellen Kreditgeber im Pariser Club spielen für viele ärmere Länder nur noch eine marginale Rolle. Wichtige neue bilaterale Gläubiger wie China, Taiwan oder Kuwait lassen sich aber nicht in das von den traditionellen Industrieländern dominierte Pariser Kartell einbinden, weil ihnen politische Spielräume, die strategische und willkürliche Schuldenerlasse mit sich bringen, wichtiger sind als die in Paris propagierte „Gläubigersolidarität“.

Viele der ehemals überschuldeten armen Länder haben überdies seit Beginn der Dekade erstmals erfolgreich Staatsanleihen an den internationalen Kapitalmärkten platziert. Zu diesen Erfolgsgeschichten gehören unter anderem der Senegal, die Elfenbeinküste, Sambia, Mosambik, Tansania und Ghana. Ghana ist aber eines der aktuellen Hochrisikoländer (siehe hierzu auch Artikel von Clara Osei-Boateng und Kristina Rehbein). Zwar sind die meisten der neuen HIPC-Staatsanleihen mit Collective Action Clauses (CACs) ausgestattet, die im Krisenfall eine Umstrukturierung auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen der Zeichner einer Anleihe ermöglichen. Schon bei HIPC bestand allerdings das Hauptproblem in der Koordination zwischen den verschiedenen Gläubigergruppen, nicht innerhalb derselben. In der Folge wurden unabweisbare Schulden­erleichterungen immer wieder hinausgezögert und damit viel teurer als bei einer zeitigen Restrukturierung.

Im September 2014 ergriffen die Entwicklungs- und Schwellenländer in der UNO die Initiative, diesem Umstand durch die Schaffung eines allgemeinverbindlichen Rahmens für eine geordnete Staatsi­nsolvenz abzuhelfen. Der Prozess wurde jedoch von Deutschland und einer Handvoll weiterer Länder blockiert. Auf die Frage, was geschehen soll, wenn etwa Ghana erneut seine Zahlungen einstellen muss, heißt es in den zuständigen Ministerien in Berlin, dass die CACs dann eine Umschuldung ermöglichen würden. Die aber betreffen in Ghana und allen anderen akuten Krisenländern derzeit weniger als 20 Prozent der langfristigen Schulden und sind auch nicht der Teil, der die Zahlungsbilanz und die öffentlichen Haushalte am stärksten belastet. Eine nächste HIPC-Entschuldung soll es aber auf keinen Fall geben. Damit schließt sich der Kreis zu der Zeit vor 1996.


Jürgen Kaiser koordiniert das zivilgesellschaftliche Bündnis erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung.
j.kaiser@erlassjahr.de