Editorial

Konvergierende Perspektiven

Westliche Entwicklungspolitik war immer auf florierende Marktwirtschaft ausgerichtet, aber die Regierungen vieler Entwicklungsländer blieben lange skeptisch. Beide Sichtweisen waren begründet. Den Gebern war klar, dass der Wiederaufbau in Japan und Westeuropa nur dank Marktkräften so schnell gelang. Die Spitzenleute in gerade unabhängig gewordenen Kolonien wussten dagegen, dass in bettelarmen Gesellschaften die wenigen Wohlhabenden alles und jeden kaufen können – hochrangige Richter ebenso wie minderjährige Mädchen.

In den 80er und frühen 90er Jahren dachte der Westen, er werde weltweit Marktdynamik auslösen. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sollten in Entwicklungsländern das Staatshandeln zurückdrängen, um Raum für Unternehmertum zu schaffen. Allzu oft kam es anders und das Ergebnis waren schwache Staaten mit verarmten Märkten. Vielen Entwicklungsländern fehlten nämlich die formalen und informellen Institutionen, von denen das Funktionieren von Märkten abhängt. Statt Wettbewerb herrschte Vetternwirtschaft und Korruption. Statt einklagbarer Verträge galt das Recht des Stärkeren. Statt mit niedrigen Löhnen Investoren anzu­locken, wirkten Entwicklungsländer mit schlechter Infrastruktur abschreckend. Der Strukturanpassungspolitik gelang es nicht, die Wirtschaft anzukurbeln und Regierungen damit zusätzliche Steuermittel für die Schuldentilgung zu verschaffen. Schwache Volkswirtschaften wurden noch schwächer, arme Länder versanken in Überschuldung.

Umdenken wurde unvermeidlich. In den späten 1990ern warb die Weltbank für „good governance“, was im Kern bedeutet, dass die Ressourcen eines Landes für seine Entwicklung genutzt werden. Das Ziel war immer noch marktwirtschaftlicher Wohlstand, aber zunächst sollten die nötigen Institutionen inklusive Bildungs- und Gesundheitswesen aufgebaut werden. Die Geber begannen, überschuldeten Staaten Kredite zu erlassen, wenn diese im Gegenzug Armut bekämpften.

Auch in den Entwicklungsländern wurde indessen umgedacht. China verfolgt nach erfolgreichen Marktexperimenten in den 80er Jahren eine komplett neue Wirtschaftspolitik. Andere Volkswirtschaften wie Indien, die Türkei und Brasilien wurden nach Finanzkrisen Strukturanpassungen unterworfen. Sie erholten sich aber schnell und überraschen seither mit anhaltend hohen Wachstumsraten. Ihre Institutionen erwiesen sich als stärker, als die der Länder gewesen waren, in denen Strukturanpassungen scheiterten. Zudem waren ihre Ökonomien viel größer und die Reformen, zu denen sie verpflichtet wurden, weniger hart. Selbst Indonesien, das zu strenge Konditionen erdulden musste, wie sogar der IWF später einräumte, kam schnell wieder auf die Beine.

Auch auf anderen Feldern führten Erfolge – etwa der Triumphzug des Mobilfunks – dazu, dass Experten in armen Ländern die Rolle des Privatsektors neu bewerteten. Heute betonen selbst Denkfabriken im Umfeld der indischen Regierung, dass er für Entwicklung nötig ist (siehe Kommentar auf S. 439).

Firmenorientierte Ansätze sind entwicklungspolitisch sinnvoll. Doch soziale Sektoren sind auch wichtig, wovon die Regierungen von China, Brasilien und Indien ein Lied singen können. Allen drei bereitet Sorge, die Schere zwischen Arm und Reich werde sich weiter öffnen. Auch solide Regierungsführung und kluge Regulierung sind unverzichtbar: Weil die reiche Welt auf diesen Gebieten versagt hat, bremst seit drei Jahren eine globale Finanzkrise die Weltwirtschaft.

Relevante Artikel

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.